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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
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Bewegung der Nadeln. Nick fühlte sich besänftigt und unendlich entspannt. Wie war es möglich, dass man mit manchen Menschen zufrieden schweigend dasitzen konnte und mit anderen nicht? Seine Tante beendete eine Reihe linker Maschen, drehte das Strickstück um und begann mit einer Reihe rechts. Es könnte ein Umschlagtuch oder eine Decke werden. Sie strickte wunderschöne Kleidungsstücke für kleine Kinder – eigentlich meist für wohltätige Zwecke, nur gelegentlich für sich selbst und nie für Milo, Matt oder Im.
    »Würdest du mir einen Pullover stricken, Lottie?«, fragte er plötzlich, ohne genau zu wissen, warum. Er war nur der Überzeugung, dass einem Kleidungsstück, das jemand, der einem nahestand, mit Liebe gefertigt hatte, etwas Magisches anhaftete.
    »Oh, mein Schatz«, sagte sie. Sein Vorschlag amüsierte sie. »Bist du dir sicher? Gehörst du zu den Männern, die einen von ihrer Tante gestrickten Pullover tragen würden?«
    Er fiel in ihr Lachen ein. »Warum nicht? Meine Freunde würden denken, er sei von Brora oder Toast oder sonst einem Designer. Ich möchte etwas Robustes, Strapazierfähiges. Das wäre gut für mein Image.«
    Sie warf ihm einen Blick zu, und ihm war, als schauten diese klaren grauen Augen direkt in ihn hinein, hinter seine Pose und Fassade. Er wappnete sich für den Fall, dass sie eine leicht hingeworfene, verletzende Bemerkung darüber machen würde, dass mehr als ein Pullover nötig sei, um einen harten Kerl aus ihm zu machen – Alice hätte so eine Spitze losgelassen –, aber stattdessen lächelte Lottie nur.
    »Sehr gern«, sagte sie. »Ich glaube, es wird ein Fischerpullover. Den kannst du tragen, wenn du mit Milo segeln gehst. In Marineblau. Ich nehme deine Maße, bevor du zurückfährst.«
    »Ich möchte nicht zurückfahren«, erklärte er. Auf dem großen, drehbaren Weidensessel wiegte er sich leicht hin und zurück. »Wünschst du dir auch manchmal, du könntest dein Leben einfach hinter dir lassen, Lottie?«
    Sie strickte eine ganze Reihe, bevor sie ihm antwortete. »Ich glaube, ich habe genau das umgekehrte Problem«, sagte sie schließlich. »Ich habe nie das Gefühl gehabt, ins Leben hineinzugehören. Mir ist, als hätte immer etwas in meinem Gehirn gefehlt, um richtig Verbindung zum Rest der Menschheit aufzunehmen. Das ist ein sehr unschönes Gefühl der Einsamkeit. Mir kommt es vor, als sprächen alle anderen eine Sprache, die ich nicht richtig verstehe, und benähmen sich nach einem Regelwerk, das mir niemand erklärt hat. Ich taste blindlings umher, bemüht, alles zu begreifen, aber ich war noch nie besonders erfolgreich. Deswegen bin ich auch Milo so dankbar. Verstehst du, er ist eine Zuflucht für mich.«
    Bestürzt schwieg Nick für einen Moment. Er suchte nach den richtigen Worten, um sie zu beschwichtigen.
    »Aber du bist doch all die Jahre in London gut zurechtgekommen und hast dich um Im und Matt gekümmert. Die beiden sagen immer, dass sie ohne dich ein schrecklich unglückliches Leben geführt hätten.«
    »Wahrscheinlich hätten sie das«, gab sie offen zurück, »wenn man bedenkt, dass die arme Helen so schrecklich unter Depressionen litt. Aber der Punkt ist, dass es mir sehr schwergefallen ist. Mich um sie zu kümmern ist mir nicht von selbst zugeflogen. Ich habe meine Mutter nie gekannt, daher hatte ich keine Erfahrungen, auf die ich hätte zurückgreifen können. Die armen Kleinen! Ich frage mich immer noch, wie wir das überlebt haben. Wir waren wie Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, und jeder hat auf den anderen aufgepasst. Wir haben das überhaupt nur überstanden, weil ich sie so sehr liebe. Ich betrachte andere Menschen, besonders junge Leute, mit Ehrfurcht. Sie scheinen Dinge zu wissen, ohne dass sie ihnen jemand erklärt hat; sie haben alles im Griff und sind erstaunlich weise. Ich muss ständig darum kämpfen, mit den anderen Schritt zu halten.«
    »Nun ja, wenn das stimmt, kann ich nur sagen, dass du zum Ausgleich viele andere gute Eigenschaften hast«, meinte er loyal. »Ich weiß nicht, was Dad ohne dich anfangen würde.«
    Sie lächelte vor sich hin, antwortete ihm aber nicht, und er zerbrach sich den Kopf nach etwas, was sie aufmuntern würde. Natürlich hatte seine Mutter sich immer in sarkastischem Ton über ihre jüngere Schwester ausgelassen; aber er hatte das einfach für die übliche Geschwisterrivalität gehalten – besonders, weil sich Lottie so gut mit Milo verstand.
    »Du hast in einem Verlag gearbeitet«, rief Nick

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