Das verborgene Kind
rücksichtsvoller war und die Empfindungen anderer Menschen stärker wahrnahm.
Als sie jetzt an Nick dachte und sich daran erinnerte, wie sehr sie sich gestern, als er bei ihr gewesen war, nach ihm gesehnt hatte, spürte Imogen einen Anflug von schlechtem Gewissen. Wieder sah sie den neben ihr liegenden Jules an. Sie hatte schon halb die Hand gehoben, um ihn zu berühren, als ein schriller, gebieterischer Schrei ertönte: Rosie war aufgewacht. Imogen schlug den Quilt zurück und glitt leise aus dem Bett.
Jules wartete, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, bevor er sich auf den Rücken drehte, tief Luft holte und sich reckte. Er verstand sich inzwischen gut darauf, Schlaf vorzutäuschen, denn er hasste diese Momente, wenn sie nebeneinanderlagen, stocksteif und verbissen schweigend, ein Stück eiskaltes Laken zwischen sich. Tatsache war, dass er einfach nicht wusste, was er tun sollte. Aber er weigerte sich absolut, sich selbst vollkommen ins Unrecht zu setzen und um Verzeihung für etwas zu bitten, was nicht seine Schuld war. Schließlich wussten sie beide, dass Bossington zu weit von der Praxis entfernt lag und als Wohnort keine vernünftige Wahl war, und er hatte nicht vor, deswegen zu Kreuze zu kriechen. Imogen wusste genau, unter welchen Druck sein Job ihn setzte. Er erwartete von ihr, dass sie sich wie eine Erwachsene benahm und die Enttäuschung verkraftete. Immerhin, nun, da Matt das Cottage kaufen würde – oh, wie triumphierend sie ihm angekündigt hatte, dass Matt dafür sorgen würde, dass das gute alte Sommerhaus in der Familie blieb, als wäre Matt der einzige Mensch, der begriff, wie wichtig das war –, könnte sie so oft hinfahren, wie sie wollte. Doch als er das gesagt hatte, weil er sich vorstellen konnte, dass sie das freute, hatte sie ihn angestarrt wie ein Ungeheuer. »Vielen Dank«, hatte sie gesagt. Sarkastisch und verächtlich. »Vielen Dank«, nichts weiter.
Er verübelte ihr diese Andeutung, dass er ein gefühlloser Schwachkopf sei. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er versucht hatte, das Patt zwischen ihnen aufzubrechen, hatte sie ihn energisch zurückgewiesen und sich geweigert, ihm auf halbem Weg entgegenzukommen. Und jetzt dieser Unsinn wegen der Scheune, die sie unbedingt allein besichtigen wollte. Er würde wie ein Trottel dastehen, so war das. Billy Webster würde sich fragen, was in aller Welt das denn zu bedeuten hat. Also sah er sich gezwungen, Billy anrufen und ihm zu erklären, dass Im es schaffen würde, am Vormittag vorbeizukommen, er aber zu beschäftigt sei, um sie zu begleiten, so etwas in der Art. Billy sollte nicht vermuten, dass etwas nicht in Ordnung war, und er hoffte bei Gott, dass Im nett zu Billy und seiner Frau sein würde. Es war verdammt peinlich, dass Im ihn in diese Lage brachte.
Einen Moment lang lag Jules da und brodelte innerlich vor Ohnmacht und Unglück. Dann warf er einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch, schlug die Decken zurück und ging ins Bad.
Ungefähr eine halbe Stunde nachdem Jules das Cottage verlassen hatte, rief Nick an. Er sagte kaum etwas und meldete sich viel früher als sonst.
»Wo bist du?«, fragte Imogen, die erriet, dass Nick allein war. Ungeschickt wischte sie Rosie mit der linken Hand das Gesicht ab. »Halt still, Rosie! Ich meine, weil du für deine Verhältnisse ziemlich früh unterwegs bist.«
»Ich führe Pud aus«, erklärte er. Er klang belustigt. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie nützlich es sein kann, einen Hund zu haben. Ein wunderbarer Vorwand für einen frühen Spaziergang und ein wenig Privatsphäre. Ich hatte überlegt, ob wir uns auf einen Kaffee treffen können. Oder zum Mittagessen?«
»Das ist ein wenig schwierig. Bleib dran, ich hole nur etwas, um Rosie zu unterhalten. Da, Liebling, hier hast du Bab und dein Hasenbuch. Tut mir leid, Nick. Hör zu. Ich fahre gleich nach Simonsbath, um mir eine ausgebaute Scheune anzusehen, die wir vielleicht mieten. Jules ist sich ziemlich sicher, dass der Besitzer oder seine Frau dort sein werden, aber er will das noch einmal überprüfen und mich dann anrufen. Ich will heute Morgen fahren, wenn ich kann. Wir müssen einfach eine Entscheidung treffen.«
»Ich komme mit«, sagte er sofort. »Das wird lustig. Warum nicht?«
Das war eine schreckliche Versuchung, und sie zögerte. »Ich finde nicht, dass wir das tun sollten«, meinte sie schließlich widerstrebend. »Es ist ganz in der Nähe der Praxis, und womöglich taucht Jules unangekündigt auf. Das
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