Das verborgene Kind
heraus. Er schüttelte Im, brüllte sie an, doch seine Arme und Beine waren so schwer, dass er sich kaum rühren konnte. Unvermittelt riss er die Augen auf und lag in der Morgendämmerung da; sein Puls pochte laut in den Ohren, und er war schweißüberströmt. Bewusst verlangsamte er den Atem, zwang sich zur Ruhe und versuchte sich an den Albtraum zu erinnern:
Im und er fahren Bus und haben Rosie im Kinderwagen dabei. Sie stehen an der Tür, weil sie aussteigen wollen, da tritt ein Mann hinter sie und fängt zu reden an; und alle fallen lachend ein. Der Bus hält, die Fahrgäste steigen aus, und dann bemerkt er irgendwann, dass sie Rosie im Bus vergessen haben. Sein Entsetzen ist so groß, dass er kaum ein Wort herausbringt, aber Im reagiert gar nicht auf seine Angst. Schweigend und zornig stößt sie ihn weg und entfernt sich immer weiter von ihm. »Wir haben Rosie verloren, und alles ist meine Schuld«, schreit er sie an. »Wir müssen sie suchen.« Und immer noch starrt sie ihn mit steinerner Miene an, bis er sie packt und schüttelt .
Der Traum verblasste, und Matts Herz schlug langsamer. Er warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Abgesehen von der körperlichen Reaktion auf den Albtraum fühlte er sich bitter enttäuscht: Er hatte so sehr gehofft, dass der Einfluss des Sommerhauses ihn heilen und die Dämonen vertreiben würde. Aber sie waren wieder da, so stark wie eh und je. Er stand am Fenster und spürte immer noch das Entsetzen und die Hilflosigkeit. In der glorreichen Zeit, in der er Epiphanie geschrieben hatte, wäre er direkt an die Arbeit gegangen und hätte aus den Dämonen und dem Albtraum Gestalten und Muster für seinen Plot erschaffen. Er hätte die Geister besänftigt, indem er sie schreibend in etwas verwandelte, was er verstehen konnte, etwas, was außerhalb seiner Person lag und daher besiegt werden konnte.
Jetzt stand er schweigend da und sah nach draußen. Langsam erfasste er die Schönheit des Morgens, und er öffnete das Fenster und beugte sich in die warme, weiche Luft hinaus. Eine Drossel sang wunderschön, und er konnte kaum glauben, dass ihr Lied von einem gewöhnlichen Gartenvogel stammte. Still lauschte er, während der schwere süßliche Duft des Flieders heranschwebte und den Raum erfüllte. Matt hörte das allgegenwärtige Plätschern des Wassers, und ganz plötzlich stand wieder die Kirche von Selworthy vor seinem inneren Auge, hoch oben auf dem Hügel.
Ruhiger geworden, wandte er sich um und hüllte sich in seinen Frottee-Bademantel. Dann ging er nach unten. Er schaltete den Wasserkocher ein, setzte sich gleich vor die Mappe mit den Gemälden und sah sie durch, während das Wasser heiß wurde. Bald holte er sich seinen Becher mit Kaffee und betrachtete die Bilder, die er ausgewählt hatte, genauer. Hier war eine Studie der Kirche, und da waren mehrere Skizzen, die den Kirchhof mit bemoosten Grabsteinen und langen Schatten zeigten sowie mit Glocken- und Butterblumen, die im hohen Gras wuchsen. Das kleinformatigste Bild stellte eine kleine Statue vor einem grauschwarzen, schattigen, ovalen Hintergrund dar: ein Cherub, der eine steinerne Vase in den Händen hielt. In der Vase steckten Schlüsselblumen, deren sattgelbe Blüten in einem überirdischen Licht schimmerten. An einer Seite erkannte Matt noch ein Gesicht: das eines Kindes. Es war mit leichtem Strich umrissen und kaum sichtbar.
Während er es anstarrte, hatte er das starke Gefühl, dass eine unsichtbare Präsenz ganz in der Nähe war und er etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Reglos saß er da. Er beeilte sich nicht mit seinem Kaffee, sondern ließ den Eindruck in seinem Kopf Gestalt annehmen.
Eine halbe Stunde später befand Matt sich auf der Straße nach Allerford. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Er fuhr langsam, mit offenem Fenster, und betrachtete voller Freude die Farbenvielfalt: rosarote Flecken mit blühendem Leimkraut, hell leuchtende goldgelbe Butterblumen und eine kleine Gruppe azurblauer Glockenblumen. Die cremeweißen Blütendolden des Wiesenkerbels streiften seinen Wagen. Matt betrachtete all diese Wunder an Farben und Formen nun mit Helenas Augen: Sie zogen seinen Blick immer wieder auf sich.
Er näherte sich der A39 und hielt an der Abzweigung an, um den Schwalben zuzusehen, die im Sonnenschein über die friedlich daliegenden Felder segelten; dann legte er die kurze Strecke bis zur Ausfahrt Selworthy zurück. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, war der Parkplatz an der Kirche leer. Er
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