Das verborgene Kind
stieg aus, schloss die Wagentür und schaute über das Tal hinweg zum Dunkery Hill, den die frühe Morgensonne mit rosigem und goldenem Licht übergoss. Er überquerte die schmale Straße, stieg die Stufen zum Kirchhof hinauf, bog nach links ab und beugte den Kopf, als er unter den tief hängenden, den Weg überspannenden Ästen einer großen Eibe hindurchging. Zwischen den grauen Grabsteinen wanderte er über das moosige Grün und wusste nicht, wo er nach dem kleinen Cherub mit der steinernen Vase suchen sollte. Er wusste, wo Milos Familie begraben war: an der Westseite. Hier und da hielt er inne und las die Namen der Verstorbenen, bis er mit einem kleinen Schock ihren erblickte: Helena. Die Worte, die darüber eingehauen waren, lauteten: »In memoriam Miles Grenville, 1860–1900, gestorben in Bloemfontein, und seiner geliebten Frau Helena 1872–1925.«
Merkwürdig erschüttert und verwirrt angesichts dieses steinernen Belegs von Helenas Existenz, starrte Matt den Grabstein an und erwies der Toten wortlos die Ehre.
Nach einer Weile hörte er in der Nähe einen Vogel singen, und er hob den Kopf, um sich nach ihm umzusehen. Er verließ das Grab und spazierte langsam an der Mauer entlang, an der Efeu und junge Eschen wuchsen. Am Fuß der Mauer, hinter verschlungenen Wurzeln und zwischen Efeuranken kaum zu erkennen, lag der Cherub. Matt kauerte nieder, betrachtete ihn und streckte den Arm aus, um die angeschlagene und verwitterte Figur vorsichtig aufzuheben. Sie trug weder Daten noch Name, und die weit aufgerissenen Augen des Engels, dessen Lippen zu einem Lächeln verzogen waren, sahen leer an Matt vorbei.
Während Matt dort hockte, kam ihm ein Gedanke, verschwommen zuerst, aber dann immer klarer. Den Cherub immer noch in der Hand, stand er auf und ging die von Gras überwucherten Wege entlang. Da war es: »In memoriam George Grenville, 1890–1919.« Der blonde Junge, der vor über hundert Jahren im Sommerhaus mit seiner kleinen Lok gespielt hatte. Still stand Matt da und entbot ihm seinen Gruß. Dann ging er wieder zur Mauer und pflückte Butterblumen. Noch einmal trat er an Helenas Grab, verstreute die Blumen darüber und wandte sich schließlich ab.
Es erstaunte ihn gar nicht, Lottie zu sehen. Sie kam die Auffahrt hinuntergeschlendert. Pud rannte vor ihr her. Matt stellte den Wagen an der Abzweigung ab, die zum Sommerhaus führte, und ging den beiden entgegen.
»Ich glaube, ich weiß es«, sagte er zu ihr. »Ich glaube, ich habe endlich die Wahrheit erraten, Lottie.« Matt zitterte vor Aufregung, und sie nahm seinen Arm. »Kannst du es mir erzählen?«
»Natürlich. Ich möchte es sogar. Kannst du sofort mit mir kommen?«
Sie nickte. »Fahr nur vor! Wir kommen nach. Wir brauchen nicht lange.«
Sie hatte Recht. Er musste das Bild noch einmal betrachten, noch einen Sessel auf die Veranda schaffen und Kaffee kochen.
Matt war sich bewusst, dass er die Szene aufbaute wie ein Bühnenbild. Als Lottie erschien, war er so weit. Die beiden Korbsessel standen bereit und dazwischen ein Tisch mit einer Kanne Kaffee, zwei Tassen und den Aquarellen.
»Pud hat sich in die Büsche geschlagen«, sagte sie und setzte sich. »Also, erzähl es mir!«
Er schob das Bild mit dem Cherub auf sie zu und schenkte ihr Kaffee ein. Sie nahm es, drehte es so, dass sie es betrachten konnte, und schaute ihn fragend an. Er reichte ihr die beiden anderen Bilder, die den kleinen Jungen darstellten.
»Auf allen dreien befindet sich etwas, was eigentlich nicht dahin gehört«, erklärte er. »Erkennst du es?«
Sie schaute noch einmal hin und rückte die Bilder hin und her. Dann veränderte sich ihre Miene, und sie sah mit strahlenden Augen zu ihm auf. »Da ist noch ein Kind«, sagte sie. »Wie ein kleiner Geist im Hintergrund.«
»Genau. Ein kleiner Geist. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dieser kleine Junge, George, hatte einen Zwilling, der gestorben ist. Helena stellt ihn hier im Sommerhaus und im Garten zusammen mit George dar. Siehst du ihn dort, im Schatten der Hecke? Ich halte es für wahrscheinlich, dass er tot zur Welt gekommen ist und man ihn einfach weggebracht hat. Und der Cherub ist ein Denkmal für ihn.«
Er griff nach unten, neben seinen Sessel, und hob den kleinen steinernen Cherub auf. »Er war auf dem Kirchhof, unten an der Mauer. Ich glaube, sie hat ihn dort zur Erinnerung an Georges Zwilling aufgestellt, unten an der Wand verborgen, weil sie kein richtiges Grab für ihn hatte. Aber ein paar der Bäume sind
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