Das verborgene Kind
sie leichthin. »Natürlich lieben wir uns. Seit ich ein kleines Mädchen war, ist er für mich so etwas wie ein großer Cousin gewesen, und ich war für ihn die kleine Schwester, die er niemals hatte. Ich gebe zu, dass es einen Zeitpunkt gab, als beinahe mehr daraus geworden wäre – das musste ja früher oder später passieren, als die Hormone ins Spiel kamen –, aber es ist nie etwas daraus geworden. Er glaubt gern, dass das die Lösung für all seine Probleme gewesen wäre. Irgendwie nimmt es die Verantwortung von ihm, wenn etwas schiefgeht. Du weißt doch, wie man dann so denkt: ›Ach, wenn wir es nur miteinander probiert hätten, vielleicht ginge es mir dann nicht so schlecht!‹ Alice ist manchmal ein ziemliches Biest, deswegen lasse ich ihm die kleine Phantasie. Sie schadet doch nicht. Jedenfalls ...« – sie sah ihn mit fragend erhobenen Augenbrauen an – »bis jetzt nicht. Komm schon, Jules! Ich kann nicht glauben, dass du wirklich so eine große Sache daraus machst, dass ich mit Rosie und Dodger ein paar Stunden mit Nick verbracht habe.«
Sie erkannte, dass ihre direkte Reaktion ihn verunsicherte, und sie vermutete, dass Nick nichts gesagt hatte, was sie in größere Schwierigkeiten bringen konnte. Noch einmal ergriff sie die Gelegenheit.
»Lass dich doch nicht von dieser Dummheit irritieren, Liebling. Himmel! Du kennst Nick doch. Er ist durcheinander, aber er ist vollkommen harmlos, und ich hätte gedacht, dass du weißt, wie glücklich ich hier mit dir bin. Seit unserem Umzug läuft es doch gut zwischen uns, oder? Lass doch nicht zu, dass eine dumme, sentimentale Nachricht von Nick uns das verdirbt.« Ihr Herz pochte, und ihr Magen überschlug sich, als sie auf ihn zutrat und die Hand ausstreckte. »Ich liebe dich, Jules. Wenn du das inzwischen nicht weißt, dann wirst du es niemals glauben.«
Sie legte einen Hauch von Gekränktheit und sogar Zorn über ihren liebevollen Ton, sah den Zweifel in seinen Augen, das Entspannen der Muskeln um seinen Mund und wusste, dass alles gut werden würde. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft: die lange Autofahrt und die Wanderung zum Strand; die Spannung zwischen ihr und Nick vorhin und jetzt das. Sie ließ die Hand sinken und wandte sich ab.
»Ich glaube, ich brauche was zu trinken«, sagte sie in ziemlich betrübtem Ton – ein Appell an seine Ritterlichkeit und sein schlechtes Gewissen. Sofort reagierte er und nahm ihre Hand.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, erklärte er entschuldigend. »Du hast nicht gesagt, dass du ausgehen würdest, und dann hast du dein Telefon zu Hause gelassen. Normalerweise würde ich deine Nachrichten nicht abhören, aber ich habe mir solche Sorgen gemacht, weil du immer noch nicht da warst, und da habe ich mich gefragt, ob du selbst vielleicht anrufst. Oh, ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe mir solche Sorgen gemacht, Im ...«
»Ach, Liebling!« Sie umfasste seine Hand und legte einen Arm um ihn. »Das tut mir so leid. Ich hätte dich anrufen sollen, um dir zu sagen, wohin ich wollte; aber alles ging so schnell, und ich hätte nie gedacht, dass ich erst so spät wieder zu Hause sein würde. Als wir vom Strand zurückkamen, war Rosie derart erledigt, dass ich noch einmal angehalten und ihr einen Imbiss gegeben habe. Oh, Jules, du machst dir doch nicht wirklich Gedanken wegen Nick, oder? Du vertraust mir doch?«
Er war geschlagen und hatte ihrer logischen Argumentation nichts entgegenzusetzen. Schließlich stimmte sie genau mit Nicks Nachricht überein. Er legte die Arme um sie, und sie drückte ihn. Erleichterung stieg in ihr auf, und sie fühlte sich ziemlich schwach.
»Tut mir leid«, sagte Jules zerknirscht. »Es war nur die Art, wie er geredet hat ...«
Sie schaute zu ihm auf. Jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil er sich entschuldigte. »Ich weiß«, sagte sie. »Vergessen wir es einfach und trinken unseren Drink! Und dann muss ich Rosie ins Bett bringen. Schau sie dir an, sie ist völlig hinüber. Beide sind das.«
Rosie war auf das Sofa geklettert, lag da und lutschte am Daumen, Bab an die Brust gedrückt; neben ihr auf dem Boden hatte Dodger sich zusammengerollt und schlief tief und fest. Im und Jules sahen zuerst die zwei und dann einander an; beide waren sich wortlos darüber einig, dass sie viel zu verlieren hatten und keiner von ihnen all das, was sie verband, aufs Spiel setzen wollte.
31. Kapitel
L ottie nahm den Pullover aus dem Strickbeutel und breitete ihn auf dem Sofa aus. Nick
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