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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
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starrte darauf.
    »Den hast du wirklich gemacht?«, fragte er staunend. »Ist der für mich?« Er streckte die Hand aus und berührte das dicke, warme, weiche Maschenwerk. »Ich kann nicht glauben, dass du den tatsächlich gestrickt hast.«
    »Warum nicht?«, fragte sie. »Es hat mich mal wieder gereizt. So ein großes Kleidungsstück habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Es ist ganz gut geworden, obwohl ich zugeben muss, dass wir im Moment nicht das richtige Wetter dafür haben.«
    Nick rollte bereits die Ärmel seines blauen Baumwollhemds hinunter, zog den Pullover über den Kopf und zupfte seinen Hemdkragen heraus.
    »Er ist perfekt«, sagte er. »Was meinst du?« Er stellte sich in Pose und drehte sich. »Danke, Lottie. Er ist ganz herrlich.«
    Sie betrachtete ihn kritisch, offensichtlich über seine Reaktion erfreut.
    »Er steht dir sehr gut«, gab sie zu. »Die Größe habe ich richtig getroffen, oder? Du hast beim Maßnehmen ja auch sehr geduldig stillgehalten. Es hat mir großen Spaß gemacht, und ich freue mich, dass er dir gefällt.«
    »Herrlich«, wiederholte er. Er strich über das marineblaue Rippenmuster und hätte den Pullover am liebsten gar nicht wieder ausgezogen. Er schenkte ihm ein merkwürdiges Gefühl von Behaglichkeit und Ruhe, und er setzte sich, immer noch in dem Pullover, neben sie.
    »Es ist schön, dich zu sehen, Nick«, sagte sie. »Wir hatten gehofft, wir bekämen auch Alice und die Mädchen zu Gesicht. Ihr letzter Besuch ist so lange her.«
    Verlegen zuckte er die Achseln. »Du weißt ja, wie es ist, wenn man Hausgast ist. Da ist es schwer zu erklären, dass man sich verdrückt und noch einen anderen Besuch macht. Außerdem ist es von Rock aus eine lange Fahrt hierher. Aber Dad kommt ja sehr bald nach London, nicht wahr, und dann sieht er uns alle. Ich hoffe, dass bis dahin alles noch ein wenig besser geworden ist. Alice ist immer noch ein bisschen ... nun ja, kühl zu mir, wenn du verstehst, was ich meine.« Er erschauerte theatralisch und grinste sie an. »Deswegen bin ich ja so froh über den Pullover. Aber ich hoffe das Beste. Du weißt, was für ein Optimist ich bin.«
    »Ist Hoffnung denn dasselbe wie Optimismus?«, fragte Lottie nachdenklich. »Optimisten haben Erwartungen, oder? Dass das Wetter aufklart oder die politische Lage sich bessert. Hoffnung hat etwas mit Glauben zu tun, nicht wahr. ›Hoffnung bedeutet, von etwas überzeugt zu sein, was man nicht sieht.‹ Wer hat das noch gesagt?«
    Er schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu kompliziert, Lottie. Ich glaube, du betreibst Haarspalterei.«
    »Schon möglich. Hast du Sara gesagt, dass Venetia hier ist?«
    Er sah sie nervös an. »Oh Gott. Ich glaube nicht, aber vielleicht ist es mir rausgerutscht. Wäre das ein schrecklicher Fehler gewesen?«
    »Vielleicht. Sie hat etwas dagegen, dass Milo das Haus, wie sie sagt, zum ›Obdachlosenasyl‹ macht, und dass Venetia jetzt hier untergekommen ist, wäre wahrscheinlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Aber da wir in letzter Zeit nichts von ihr gehört haben, wirst du es ihr wohl nicht verraten haben.«
    »Ihr hattet doch gar keine andere Wahl, oder? Die arme alte Venetia! Ihr konntet sie ja schwerlich sich selbst überlassen.«
    »Das dachten wir auch.«
    »Mum ist eben ein Kontrollfreak«, meinte er. »Aber das wisst ihr ja. Ehrlich, ich kann einfach nicht verstehen, was sie das angeht.«
    »Sie befürchtet, High House könnte voller Flüchtlinge sein, wenn Milo einmal stirbt, und dass es dir dann schwerfallen wird, dein Erbe anzutreten. Das ist alles.«
    »Du bist doch kein Flüchtling, Lottie«, sagte er betrübt.
    »Nicht?« Sie lächelte über seine gequälte Miene. »Ich habe dir schon mal erzählt, dass ich mich immer wie eine Fremde auf dieser Welt gefühlt habe und Milo mich gerettet hat. Er hat mir eine Zuflucht angeboten. Daher könnte man schon behaupten, ich wäre ein Flüchtling.«
    »Also, ich sehe dich nicht so. Dad braucht dich. Er ist nicht so hart, wie er vorgibt, nicht wahr? Er hat auch ein paar Dämonen, die ihm im Nacken sitzen. Und jetzt die arme Venetia.« Er verstummte, zog seine Schlussfolgerungen und schaute trostlos drein. »Gibt es irgendjemanden, der wirklich glücklich ist?«, fragte er unvermittelt.
    »Wir sind alle auf die eine oder andere Weise beschädigt«, gab sie zurück. »Manche mehr, manche weniger; und einige Menschen können besser mit ihren Verletzungen umgehen als andere. Und wieder andere weigern sich, sich ihre

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