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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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würde.
    Der Aubrey-Druck im Ankleidezimmer seiner Großmutter war eine Landschaft aus felsigen Klippen und silbrig schäumendem Meer. Lange Gräser, die der Wind niederdrückte, krönten die Klippen mit Leben. Eine Frau spazierte den Pfad dort oben entlang. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut fest, der andere Arm war leicht abgespreizt, als wollte sie dadurch das Gleichgewicht halten. Das Bild war impressionistisch angehaucht, die impulsiv hingeworfenen Pinselstriche machten die Szene so lebendig. Wenn Zach das Bild betrachtete, rechnete er jeden Moment damit, Möwen kreischen zu hören und salzige Gischt auf dem Gesicht zu spüren. Man konnte die nassen Felsen riechen, und der Wind brauste einem in den Ohren. Das bin ich, erklärte seine Großmutter ihm stolz, mehr als einmal. Wenn sie das Bild betrachtete, erkannte Zach ganz deutlich, dass sie in die Vergangenheit schaute. Ihr Blick verschwamm und richtete sich auf ferne Orte, längst vergangene Zeiten. Und dennoch hatte dieses Bild für Zach auch schon immer irgendetwas Ungutes, ein wenig Unheimliches gehabt. Die Gestalt sah so verletzlich aus, wie sie da ganz allein über die Klippen lief, eine Hand ausgestreckt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als wehte der Wind gar nicht vom Meer, sondern vom Land her, sodass er sie von den Felsen in das aufgewühlte Wasser darunter zu stürzen drohte. Wenn er lange genug hinsah, bekam Zach manchmal dieses wackelige Gefühl in den Knien, wie wenn er ganz oben auf einer Leiter stand.
    Sie hatte sich tatsächlich ein wenig schwindelig gefühlt an jenem Morgen, ihrer Füße nicht ganz sicher. Die Macht der neuen Gefühle, die sie gepackt hatten, ließ alles andere fadenscheinig und falsch erscheinen. Der Weg über die Klippen zu Aubreys Haus war gut anderthalb Kilometer weit, und mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller, lauter. Sie sah ihn nicht ein Stück weiter vorne stehen und mit Ölkreiden zeichnen. Am Ende der langen Steigung blieb sie stehen, um zu verschnaufen. Der Wind schien geradewegs in ihre Lunge zu wehen und ihr Auftrieb zu verleihen, als könnte er sie davontragen wie einen losgerissenen Drachen. Der Gedanke, dass sie ihm immer näher kam, die Freude darauf, ihn bald zu sehen … Er zeigte ihr später das Bild, und ihre Haut kribbelte bei der Vorstellung, dass er sie ohne ihr Wissen beobachtet hatte. Ihren eigenen Körper von seiner Hand in Farbe festgehalten zu sehen, tat ihr auf seltsame Weise weh, schmerzte sie tief im Innern.
    Nach dem Tod seines Großvaters stimmte seine Großmutter, gebrechlich und verängstigt, bald zu, in eine Seniorenwohnanlage zu ziehen. Da war der Druck bereits so verblasst, dass er mit vielen anderen ihrer Sachen, die zu alt und abgenutzt waren, als dass sie noch jemand brauchen könnte, im Container landete. Das Ding ist sowieso zu groß für deine neue Wohnung, hatte Zachs Vater barsch gesagt. Seine Großmutter hatte am Wohnzimmerfenster gestanden und auf den Container vor dem Haus gestarrt, bis sie mit ihr losfuhren. Das Originalgemälde hing in der Tate Gallery, und Zach besuchte es, wann immer er nach London kam. Wenn er es betrachtete, wurde er jedes Mal nostalgisch. Es versetzte ihn in seine Kindheit zurück, genau wie die Gerüche von verbranntem Toast, Pfefferminzbon bons und Zigarillorauch. Zugleich konnte er es jetzt mit den Augen eines Erwachsenen sehen, eines Künstlers. Aber vielleicht wurde es Zeit, dass er aufhörte, sich als Künstler zu betrachten. Das letzte Bild hatte er vor Jahren fertiggestellt und noch länger nichts mehr hervorgebracht, das er irgendwem hätte zeigen mögen. Er wünschte sich sehr, dass die Gestalt auf diesem Aubrey-Gemälde tatsächlich seine Großmutter war, und er suchte sie oft nach vertrauten Zügen ab. Schmale Schultern, relativ große Brüste. Eine winzige, zierliche Gestalt mit einem Klecks hellbrauner Haare. Sie hätte es sein können. Das Bild war mit 1939 datiert. In jenem Jahr, hatte seine Großmutter ihm zugeflüstert, wenn sie zusammen vor dem Druck standen, hatten sie und ihr Großvater Urlaub in Dorset gemacht, nicht weit von Aubreys Sommerhaus entfernt, und sie waren dem Künstler bei einem Spaziergang begegnet.
    Erst viel später im Leben dämmerte Zach die Tragweite all dessen. Er wagte nie, seine Großmutter direkt nach diesem Sommer zu fragen, aber er würde darauf wetten, dass sie mit einem ausweichenden Schulterzucken reagieren würde. Dann würde sie mit diesem Funkeln in den Augen den Blick abwenden, während

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