Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. Ihr Gesichtsausdruck, wenn sie das Bild betrachtete, erkannte Zach im Nachhinein, war der einer vernarrten jungen Frau, der diese Jugendliebe mehr als siebzig Jahre später noch immer in den Knochen steckte. Das gab ihm zu denken, aber ärgerlicherweise sah Zachs Vater weder Charles Aubrey noch dem Großvater irgendwie ähnlich. Und niemand in Zachs Familie hatte je einen Pinsel oder ein Skizzenbuch in die Hand genommen, bis Zach da mit anfing. Keiner seiner offiziellen Vorfahren hatte die ge ringste künstlerische Neigung. Als er zehn war, zeigte er seinem Großvater stolz die allerbeste Zeichnung von sei nem BMX -Rad, die ihm je gelungen war. Sie war wirklich gut, das wusste er. Er glaubte, sein Großvater würde sich freuen, beeindruckt sein, doch der alte Mann hatte das Bild stirnrunzelnd angestarrt, anstatt zu lächeln, und es Zach mit einem beinahe abschätzigen Nicht übel, mein Junge zurückgegeben.
Ein weiterer Tag in der Galerie verging fast ohne Kundschaft. Eine ältere Dame drehte zwanzig Minuten lang das Gestell mit den Postkarten um und um, bis sie sich schließlich entschied, doch keine zu kaufen. Wie er diesen drehbaren Ständer hasste. Kunstpostkarten – letzte Verzweiflungsmaßnahme für jede Galerie mit ernsthaftem Anspruch, und nicht einmal die konnte er verkaufen, dachte Zach. Ihm fiel auf, dass Staub auf den weißen Drahtrahmen lag. Eine dünne Schicht auf jeder einzelnen Waagrechten. Er wischte ein paar davon mit dem Ärmel ab, gab jedoch bald auf und dachte stattdessen über Ians letzte Frage bei ihrem gemeinsamen Essen nach: Also, was wirst du tun?
Ein Gefühl von Panik ergriff ihn und versetzte ihm einen hässlichen Stich in die Magengrube, denn er hatte absolut keine Ahnung. Die Zukunft breitete sich konturlos vor ihm aus, und er konnte darin nichts, aber auch gar nichts finden, das er sich zum Ziel setzen könnte. Nichts, das offensichtlich eine gute Idee wäre oder was er gern tun würde und sich leisten konnte. Und der Blick zurück half ihm auch nicht. Sein einziges Meisterwerk, seine größte Leistung, war jetzt Tausende von Kilometern weit weg in Massachusetts, gewöhnte sich vermutlich schon einen amerikanischen Akzent an und war dabei, ihn zu vergessen. Und wenn er so hinter sich blickte, stellte sich alles, was er aufzubauen geglaubt hatte, als vergänglich heraus und war hinter seinem Rücken zu Nichts zerfallen. Seine Karriere als Künstler, seine Ehe, seine Galerie. Er konnte sich wirklich nicht erklären, wie das passiert war – ob er irgendwelche Anzeichen übersehen hatte oder das Leben grundsätzlich falsch anging. Er dachte, er hätte alles richtig gemacht. Er fand, dass er hart gearbeitet hatte. Aber jetzt war er geschieden, genau wie seine Eltern, und auch seine Großeltern hatten sich nach einer Trennung gesehnt, doch die Konventionen ihrer Generation hatten sie aneinandergefesselt. Die Scheidung seiner Eltern hatte er als blutiges Schlachtfeld erlebt, und danach hatte Zach sich geschworen, dass ihm das nie passieren würde. Vor seiner Hochzeit war er ganz sicher gewesen, dass er alles richtig machen würde, was sie falsch gemacht hatten. Während er nun dastand und ins Leere starrte, verfolgte er den Faden seines Lebens immer weiter zurück und suchte nach all den Situationen, in denen er falschgelegen hatte.
Draußen versank die Sonne hinter den Dächern, und Schatten streckten sich tief und lang auf dem Boden der Galerie aus. Jeden Tag kamen sie früher, diese Schatten, und sammelten sich in den schmalen Straßen, die von den blassen Steinfassaden Baths gesäumt wurden wie von den Wänden einer Schlucht. In der sommerlichen Hitze boten sie eine angenehme Zuflucht vor der gleißenden Sonne, der Hitze und der schwülen Enge zu dicht gedrängter Men schenleiber. Jetzt jedoch wirkten sie bedrückend, Unheil ver kündend. Zach kehrte an seinen Schreibtisch zurück und sank auf den Stuhl. Auf einmal war ihm kalt, und er war müde. Er hätte alles, was er besaß, mit Freuden dem erstbesten Menschen überlassen, der ihm klar und deutlich sagen konnte, was er als Nächstes tun sollte. Er glaubte, nicht einen weiteren solchen Tag ertragen zu können, gefangen in der Stille dieser Galerie, die von einer fernen Tochter sprach, einer Frau, die ihn schon lange nicht mehr liebte, und fehlenden Kunden, mangelnden Künstlern. Er hatte gerade beschlossen, sich sinnlos zu betrinken, als binnen fünf Mi nuten zwei Dinge geschahen: Zuerst
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