Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
wie angewurzelt, starr vor Fassungslosigkeit. Es war, als würde sie ertrinken und niemand könne es sehen. Instinktiv war ihr klar, dass sie dieses Mal nicht dazugehören würde.
Zwei Tage später verschwand der Nebel, ehe die Sonne aufgegangen war. Dimity stieg den Klippenpfad hinauf und starrte aufs Meer. Ihre Augen mussten sich anstrengen, nachdem sie so viele Tage lang kaum weiter hatte schauen können als bis zu ihren Fingerspitzen. Die Farben waren grell, heiter – zitronengelber Sonnenschein, das weite Blau über ihr, die Grün- und Goldtöne der Landschaft voll blühendem Ginster, und all das spiegelte sich verschwommen auf dem Meer. Doch es war zu spät – sie waren schon fort. Littlecombe war leer, und Dimity glaubte zu spüren, wie ihr Herz brach. Aber sie weinte nicht. Sie wollte weinen, denn ihr Geist war so schwer wie nasser Sand – doch wenn sie es versuchte und dem Drang nachgab, kamen keine Tränen. Etwas anderes wartete hinter dem Schmerz des Verlassen seins. Da waren die Ungerechtigkeit eines gebrochenen Ver sprechens und Verbitterung über die gleichgültige Grau samkeit. Also war es Ärger, der ihre Augen trocken hielt, denn das Leben, in dem sie Dimity zurückgelassen hatten, war jetzt umso schlimmer, da sie ihr gezeigt hatten, wie anders es sein könnte. Die Sonne schien warm, doch für Dimity war der Winter früh hereingebrochen.
Zach verbrachte zwei stille Tage damit, die Notizen zu ordnen, die er sich seit der Ankunft in Blacknowle gemacht hatte. Er stellte Verbindungen her zwischen einigen Dingen, die ihm schon bekannt gewesen waren, und anderen, die er von Dimity erfahren hatte. Zahlreiche Fakten stimm ten überein, aber ebenso viele ihrer Angaben konnte er durch nichts belegen. Etwa ihre Liebesaffäre mit Charles Aubrey. Wenn sie ein so wichtiger Teil seines Lebens gewesen wäre, wie sie behauptete, warum fand sich dann in seiner Korres pondenz keinerlei Hinweis auf diese Affäre? Wie war es mög lich, dass sie nichts über das weitere Schicksal seiner Familie wusste oder den Grund, weshalb er sich plötzlich zum Kriegsdienst gemeldet hatte? Wenn sie Charles wirklich so nahegestanden hatte, dass er bereit gewesen war, ihretwegen seine Familie zu verlassen, warum hatte sie dann keine Ahnung, wer Dennis gewesen war? Charakter und Ausdruck von Menschen einzufangen war Aubreys besondere Begabung gewesen, doch offensichtlich nicht bei Dennis. Hatte er ihn absichtlich so dargestellt? Vielleicht hatte er diesen Dennis nicht gemocht oder dessen Gesichtsausdruck aus irgendeinem Grund nicht auf Papier bannen wollen. Vielleicht hatten auch Genies mal einen schlechten Tag, und Aubrey hatte drei derart ähnliche Porträts gezeichnet, weil ihm bewusst gewesen war, dass sie nicht so gelungen waren wie sonst. Andererseits stammten die Porträts womöglich gar nicht von Aubrey selbst.
Zach dachte an Dimity Hatcher mit ihren schmuddeligen roten Wollhandschuhen, ihren rasch wechselnden Launen, seltsamen Gewohnheiten und dem Blut eines Ochsenherzens unter den Fingernägeln. An ihren Blick hoch zur Decke, als sie beide Geräusche von dort oben gehört hatten. Das war kein gewohnheitsmäßiger Blick gewesen, sondern ein Blick voll Überraschung, ja, Aufregung. Beinahe ängstlich. Er dachte an Hannah, die erst nichts hatte sagen wollen und dann erklärt hatte, dass in dem Haus niemand sonst lebte. Was dann? War dort jemand zu Besuch? Oder gab es etwa einen Poltergeist? Zach wollte Dimity nicht wieder aufregen, indem er erneut Fragen stellte, die zu beantworten sie sich bereits geweigert hatte. Doch zugleich hatte er diese Fragen ständig im Hinterkopf. Sie nagten an ihm, schwerlich zu ignorieren. Er dachte an ihr Erröten, ihren Blick, der nervös hin und her gehuscht war, als er ihr Bilder von Dennis gezeigt hatte. Er dachte an die vielen Stunden, die er in seiner Galerie in Bath vor Delphines Porträt verbracht hatte. Daran, wie lange er von ihr geträumt und versucht hatte, etwas über ihr Schicksal ans Tageslicht zu bringen, das in den Tiefen der Vergangenheit verschüttet war. Und hier war Dimity Hatcher, die sie gekannt hatte, ihre Freundin gewesen und bei der Erinnerung an ihr Schicksal in Tränen ausgebrochen war. Dimity Hatcher, der er versprochen hatte, ihr keine weiteren Fragen über Charles Aubreys ältere Tochter zu stellen.
Seufzend klappte Zach seine Mappe zu und ging mit entschlossenen Schritten hinaus zu seinem Auto. Er hatte Hannah seit zwei Tagen nicht mehr gesehen, aber ohne
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