Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Eines Tages hat er mich auf dem Markt gesehen, als ich zum Basar in der Altstadt ging, um eine neue Matratze zu bestellen. Ist das nicht ein treffendes Bild dafür, wie das Schicksal spielt? Welche Macht es besitzt? Dass just an dem Morgen, an dem Charles vor dem Laden des Matratzenmachers saß und zeichnete, ein Handwerker versehentlich einen Eimer Farbe über das Bett meiner Mutter kippte? Hm? Das war Schicksal, Bestimmung. Er kam nach Marokko, um sich selbst zu finden, und stattdessen fand er mich.«
»Ja«, sagte Dimity. War es dann auch Schicksal, dass hinter Littlecombe Wasserkresse wuchs und Dimity dorthin ging, um sie zu pflücken, und dass ein großer Mann wie Charles Aubrey sich von all den Häusern auf der Welt ausgerechnet dieses ausgesucht hatte, ausgerechnet hierherkam? Hierher, wo Dimity war. Wo sie schon immer gewartet hatte. Mit einem Schauer hielt sie die Worte Schicksal und Bestimmung an diese Begebenheit, an ihr Leben und ihre Begegnung mit ihm. Sie schienen gut zu passen, und das verblüffte sie.
Seufzend strich Celeste über die Karte von Marokko mit seinen riesigen, leeren Wüsten und den zwei Bergketten, die sich im Süden durch das Land schwangen. Darauf tippte sie mit dem Zeigefinger.
»Toubkal«, sagte sie. »Der höchste Berg. Meine Mutter ist in seinem Schatten und in seinem Schutz aufgewachsen. Ihr Dorf ist in die Felsen zu seinen Füßen gebaut, wo der Wind in den Kiefern zu atmen scheint. Es gibt keine bessere Möglichkeit, stets den Weg nach Hause zu finden, als an einem Berg zu leben, sagt sie. Ich war schon zu lange nicht mehr bei ihr, nicht mehr in Fes. Wie gern würde ich sie alle wiedersehen!« Celeste legte die Hand flach auf die Seite und schloss einen Moment lang die Augen, als könnte sie den Herzschlag ihrer Heimat durch das Papier spüren. Dimity fragte sich, ob Blacknowle dieselbe Anziehungskraft der Heimat auf sie selbst ausüben würde, falls sie je fortgehen sollte. Würde sie es lieb gewinnen, wenn sie erst weit weg war, als verliehe die Ferne dem Ort einen Glanz, einen Schimmer, der ihm jetzt völlig fehlte? »Schon viel zu lange. Wenn ich daran denke, wie schön es dort ist, kommt es mir seltsam vor, dass wir uns dafür entscheiden, hier zu sein.« Celeste ließ den Blick über die vier Wände der Küche schweifen. »In Blacknowle«, fügte sie voller Verdruss hinzu. Dimity war plötzlich beunruhigt, eine leise Glocke in ihrem Hinterkopf schrillte warnend.
In diesem Moment ging die Tür auf, und Charles erschien in einem Nebelschwall. Kleine Tröpfchen hingen in seinem Haar und seiner Kleidung, doch er lächelte.
»Meine Damen. Wie ist das werte Befinden?«, fragte er fröhlich.
»Gelangweilt und missgelaunt«, antwortete Delphine, zwar leichthin, und doch hörte Dimity aus den Worten eine Warnung an ihn heraus. Charles blickte von seiner Tochter zu Celeste und bemerkte offenbar deren leeren Gesichtsausdruck.
»Dann wird euch das vielleicht aufheitern.« Er hielt einen weißen Briefumschlag in die Höhe. »Ich bin im Dorf dem Postboten begegnet. Ein Brief für uns aus Frankreich.«
»Oh! Dann hat uns die Welt doch noch nicht vergessen?«, rief Celeste aus und entriss ihm den Brief.
»Von wem ist er? Was steht darin?«, fragte Élodie, als ihre Mutter den Umschlag aufriss.
»Still, Kind, lass mich lesen.« Celeste blickte stirnrunzelnd auf das Blatt hinab und trat ans Fenster, wo das Licht besser war. »Er ist von Paul und Emilia … Sie sind in Paris«, sagte sie, und ihr Blick huschte rasch über die Seite. »Sie haben sich eine große Wohnung an der Seine genommen und laden uns ein, sie zu besuchen!« Ihre Miene hellte sich auf, als sie Charles ansah, und Dimity spürte, wie ihr sämtliche Luft aus der Lunge wich.
»Paris!«, japste Élodie aufgeregt.
»Wir haben nur noch zwei Wochen, bis die Schule wieder anfängt …«, bemerkte Charles und nahm den Brief aus Celestes Hand.
»Oh, fahren wir trotzdem hin, bitte. Das wäre so schön«, sagte Delphine, ergriff die Hand ihres Vaters und drückte sie. Dimity starrte sie voller Entsetzen an.
»Aber der Nebel wird sich bald verziehen, ganz bestimmt …«, sagte sie. Niemand schien sie zu hören.
»Nun?«, sagte Celeste zu Charles und hob mit großen Augen die gefalteten Hände erwartungsvoll an die Lippen. Er lächelte sie an und zuckte mit den Schultern.
»Dann also Paris«, sagte er. Die Mädchen kreischten vor Freude, und Celeste schlang Charles die Arme um den Hals und küsste ihn. Dimity stand da
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