Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
doch es war Charles, der etwas erwiderte. Das beunruhigte Dimity. Langsam ging sie weiter und drückte sich im Schutz des Vordachs dicht ans Haus, um sie besser verstehen zu können.
»Celeste, so beruhige dich doch, Herrgott noch mal!«, rief Charles mit zornig angespannter Stimme.
»Nein! Muss das jedes Mal passieren, wenn du nach London gehst? Jedes Mal, Charles? Wenn ja, dann sag es mir jetzt, denn ich werde nicht hier mitten im Nirgendwo herumsitzen, wenn das so weitergeht. Kommt nicht infrage!«
»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich habe sie gezeichnet. Mehr nicht.«
»Ach, wie vernünftig du redest! Warum glaube ich dir dann nicht? Warum bin ich sicher, dass du lügst? Wer ist sie, diese blonde Schönheit? Die Tochter deines Auftraggebers? Irgendeine Hure, die dir gut genug gefällt, um die Hure zu ersetzen, die du in Maroc gefunden hast?«
»Genug jetzt! Ich habe nichts falsch gemacht und lasse nicht zu, dass du so mit mir sprichst! Das dulde ich nicht, Celeste!«
»Du hast es mir versprochen! «
»Und ich habe Wort gehalten!«
»Das Wort eines Mannes. Lange Jahre lehren die Frauen, was so ein Wort wert ist.«
»Ich bin nicht irgendein Mann, Celeste. Ich bin dein Mann.«
»Ja, wenn du hier bist. Aber wenn nicht?«
»Was schlägst du denn vor? Dass ich dir nie mehr von der Seite weiche? Dass ich deine Zustimmung einhole vor jeder Besorgung und jedem Termin?«
»Wenn dein Termin darin besteht, dieses Mädchen zu ficken, dann ja – genau das schlage ich vor!«
»Ich habe dir schon gesagt, dass ich sie nicht angerührt habe! Das ist Constance Mory, die Ehefrau eines Herrn, den ich in der Galerie kennengelernt habe. Sie hat recht außergewöhnliche Gesichtszüge … Ich wollte sie zeichnen, das war alles. Bitte gerate nicht jedes Mal so aus der Fassung, wenn ich ein weibliches Gesicht zeichne. Das bedeutet doch nicht, dass ich dich betrogen hätte.«
»Vielleicht nicht immer. Aber ich habe aus meinen Erfahrungen gelernt«, sagte Celeste mit heiserer Stimme.
»Lass die Vergangenheit ruhen, chérie . Mitzy Hatcher habe ich Dutzende Male gezeichnet, und dahinter vermutest du doch auch nichts, oder?«
»Ach, Mitzy ist noch ein Kind! Nicht einmal du würdest so tief sinken. Aber das ist deine Art, eine Frau zu lieben, Charles. Zumindest das weiß ich genau. So liebst du eine Frau – indem du ihr Gesicht zeichnest.« Dimitys Herz zog sich heftig zusammen, und etwas Heißes floss in ihre Adern. Es schoss bis in ihre Fingerspitzen und ließ sie zittern. So liebst du eine Frau – indem du ihr Gesicht zeichnest. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft Charles Aubrey ihr Gesicht gezeichnet hatte. Viele, viele Male. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihre Muskeln zuckten, und sie trat so leise wie möglich von einem Fuß auf den anderen.
»Ich liebe nur dich, Celeste. Von ganzem Herzen«, erklärte Charles.
»Aber mein Gesicht ist nicht mehr in deinen Zeichnungen zu finden. Schon seit vielen Monaten nicht mehr.« Celeste klang traurig. »Du bist so an mich gewöhnt, dass du mich nicht einmal mehr siehst. Doch, das ist die Wahrheit. Also lässt du mich hier allein, gelangweilt und vergessen, während du losziehst und dich amüsierst. Ich fühle mich hier wie im Exil, wenn du fortgehst, Charles! Verstehst du das denn nicht?«
»Du bist nicht allein, Celeste. Die Mädchen sind bei dir … Und ich dachte, du kannst London im Sommer nicht ausstehen?«
»Zurückgelassen zu werden kann ich noch weniger ausstehen, Charles! Ich hasse es, hier zu warten, während du andere Frauen triffst, sie zeichnest …«
»Ich habe dir doch gesagt, da …« Charles verstummte, als ein lautes, knirschendes Geräusch zu hören war, und Dimity blickte entsetzt auf die zerdrückte Scherbe eines Tontopfs unter ihrem Schuh hinab. Sie hatte keine Chance, davonzulaufen oder sich zu verstecken, also blieb sie mit gesenktem Kopf einfach stehen. »Mitzy!« Charles’ Gesicht erschien neben dem Türrahmen. »Ist alles in Ordnung?« Dimity nickte stumm und mit flammenden Wangen. »Delphine und Élodie sind unten am Bach«, sagte er. Sie nickte erneut und wandte sich dann hastig ab, nicht um die Mädchen zu suchen, sondern um zu flüchten.
Spät im August wallte der Nebel vom Meer herein wie eine riesige, sich auftürmende Welle, die über die Klippen schlug und einen knappen Kilometer landeinwärts rollte. Die feinen Wassertröpfchen waren beinahe sichtbar, beinahe groß genug, um sich als Regen niederzuschlagen, aber sie schafften es
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