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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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doch nicht ganz. Das gab es im Sommer selten, aber es war schon vorgekommen, und die ersten zwei Tage lang fanden Élodie und Delphine es herrlich. Sie schlangen sich Decken um die Schultern und spielten Räuber und Gen darm oder Mord im Nebel. Die drei rannten im Garten herum und über die Weiden bis zu den Klippen, erschreckten einander, indem sie plötzlich irgendwo wie aus dem Nichts auftauchten, und kreischten vor vergnüglichem Gru sel. Élodie bat Dimity, ihr Geistergeschichten zu erzählen, und lauschte mit großen Augen der Sage von einer ganzen Armee ertrunkener Wikingerkrieger, die von Wareham aus die Angelsachsen in Exeter angreifen wollten, als ihre Schiffe in der Swanage Bay in einem schweren Sturm sanken. Jedes Jahr seit fast tausend Jahren streifen sie an ihrem Todestag über Strand und Klippen, husten Wasser und Seetang und suchen nach ihren Pferden und versunkenen Schätzen, und nach Menschen, denen sie mit ihren Schwertern die Kehle aufschlitzen können! Élodie war wie gebannt, sie krallte sich mit ihren kleinen Fäusten an Dimitys Rock fest, und vor Spannung und Grauen stand ihr der Mund offen. In der feuchten Luft hing ihnen das Haar kraftlos vom Kopf, Worte fielen wie kleine Kiesel von ihren Lippen und trugen kaum ein paar Meter weit. Der Nebel selbst war wie ein Umhang, der die ganze Welt verborgen und mysteriös wirken ließ, doch als der dritte Tag auf diese Weise verging, zeigte all das langsam seine Wirkung.
    Élodie wurde sehr verdrießlich, Delphine still und nachdenklich. Die beiden Mädchen verbrachten immer mehr Zeit im Haus, wo ihnen das Radio etwas vorschwatzte. Delphine saß auf dem Sofa und las einen Roman oder eine Zeitschrift, Élodie versuchte mit konzentriert gerunzelter Stirn am Küchentisch zu zeichnen und verwarf ärgerlich eine Skizze nach der anderen. Wenn Dimity an die Tür klopfte, ließ Celeste sie beinahe erleichtert ein, und ihr Gesicht hatte einen angespannten, ungeduldigen Ausdruck, als müsse sie schon viel zu lange auf etwas Wichtiges warten.
    »Wie lange wird das noch anhalten, dieser … brouillard? Wie sagt man gleich?«, fragte sie.
    »Der Nebel?«
    »Ja. Der Nebel. Ich begreife nicht, wie ihr Leute hier ihn ertragt, ohne verrückt zu werden. Er ist wie der Tod, findest du nicht? Als wäre man bereits gestorben.« Ihre gedämpfte Stimme bebte.
    »Es dürfte nicht mehr lange dauern, Mrs. Aubrey. Eigent lich sollte er sich schon wieder verzogen haben. Normalerweise hält er sich nur im Winter eine ganze Woche.«
    »Mrs. Aubrey? Ach, Kind, du weißt doch, dass ich das nicht bin. Ich bin nur Celeste, mehr nicht.« Sie wedelte erregt mit einer Hand. »Und trotzdem geht er fort, um zu malen! Was will er denn da draußen malen? Weiß auf Weiß?«, brummte sie. Sie trat ans Fenster und schaute mit verschränkten Armen hinaus. »Alles ist so trübselig«, murmelte sie vor sich hin.
    Die Luft im Haus war abgestanden und verbraucht, und Dimity fand es nicht verwunderlich, dass die Mädchen schwerfällig und müde aussahen. Sie überlegte, ob sie die beiden überreden sollte, ein wenig mit hinaus an die frische Luft zu gehen, aber da streckte sich Celeste nach einem hohen Regal und holte einen Atlas herunter. »Komm, Dimity, ich will dir von einem lebendigeren Land erzählen. Hattest du denn schon einmal von Marokko gehört, ehe du mir begegnet bist?«, fragte sie.
    »Nein, noch nie«, gestand Dimity. Celeste so etwas zu sagen machte ihr nichts aus. Die Frau zeigte sich niemals geringschätzig oder verächtlich wegen Dimitys mangelhafter Schulbildung. Dimity blickte auf die detaillierte Abbildung in dem Buch hinab. Das Bild sagte ihr gar nichts. Sie suchte nach dem vertrauten Umriss von Großbritannien, an den sie sich aus der Schule erinnerte – erst wenn sie ihn gefunden hatte, würde sie sich eine Vorstellung davon machen können, wo auf der Erde Celestes Heimatland liegen mochte. Sie betrachtete die Frau von der Seite. Es erschien ihr geradezu unwirklich, dass jemand von so weit her kam – und dann ausgerechnet nach Blacknowle.
    »Wie haben Sie Mr. Aubrey kennengelernt?«, fragte Dimity.
    »Er kam nach Marokko. Nach Fes, wo ich aufgewachsen bin und mit meiner Familie gelebt habe. Fes war einst eine prächtige Stadt der Gelehrsamkeit und des Handels. Heute ist sie arg heruntergekommen, obwohl die Franzosen bessere Straßen gebaut haben. Aber Charles hat es gerade deshalb so gut gefallen, glaube ich. Der Verfall, das Alter, die ausgebleichten Fassaden der Gebäude.

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