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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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schweren, alten Schuhe tragen! Das sieht albern aus. Hier – ich borge dir meine Sandalen, bis du dir welche besorgt hast. Jetzt siehst du aus wie eine echte marokkanische Dame. Nicht wahr, Élodie?« Delphine sah ihre kleine Schwester an, die wütend die Stirn runzelte, woraus Dimity schloss, dass die Sachen ihr gut standen.
    »Sie ist aber keine Marokkanerin – wir sind mehr marokkanisch als sie! Ich will auch einen Kaftan tragen. Das sage ich Mummy!« Élodie stampfte mit dem Fuß auf und stürmte hinaus.
    »Ach, sei doch nicht so kindisch, Élodie!«, rief Delphine ihr nach. Dann wandte sie sich wieder Dimity zu, und sie lachten beide. »Der Junge, der hier wohnt, wird aus den Sandalen kippen, wenn er dich sieht«, sagte Delphine. Doch Dimity scherte sich keinen Deut um ihn. Sie blickte an den leuchtenden Stoffen hinab, in die sie gehüllt war, und wollte nur wissen, ob sie Charles so gefallen würde.
    Nervös und stolz zugleich ging Dimity mit den beiden Schwestern nach unten, wo Charles und Celeste auf einem der Sofas im Hof warteten.
    »Na? Was sagt ihr zu unserer marokkanischen Mitzy?«, fragte Delphine und drehte sie sanft im Kreis herum. Aufgeregt strich Dimity mit beiden Händen über das Gewand, um den farbigen Stoff an die Konturen ihres Körpers zu schmiegen. Charles gefiel sie, das sah sie ihm an. Erst weiteten sich seine Augen leicht, dann wurden sie nachdenklich schmal, und er betrachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf, wie er es immer tat, wenn er beinahe bereit war, eine Zeichnung oder ein Gemälde zu beginnen. Celeste starrte sie mit undurchdringlicher Miene an, und als Dimity hinüberging, um sich zu ihnen zu setzen, merkte sie, dass Celeste angespannt war und ihr ganzer Körper leicht zitterte. »Wie alt bist du jetzt, Mitzy?«, fragte sie leise.
    »Ich bin diesen Winter sechzehn geworden, glaube ich.«
    »Du glaubst?«
    »Ma hat … Ma hat mir nie genau gesagt, in welchem Jahr ich auf die Welt gekommen bin, aber ich konnte es mir zusammenreimen, jedenfalls beinahe.«
    »Dann bist du also wahrhaftig eine Frau und alt genug, um zu heiraten«, sagte Celeste noch immer in dieser un natürlichen Reglosigkeit, die Dimity zutiefst beunruhigte. Sie war erleichtert, als Élodie, hungrig wie stets, alle antrieb, endlich zum Mittagessen zu gehen.
    In den folgenden Wochen skizzierte Charles Dimity un zählige Male, als wäre allein ihr Anblick in marokkanischer Aufmachung noch nötig gewesen, damit die Bilder in seinem Kopf Gestalt annehmen konnten. Er malte sie in vagen Wasserfarben – ein Medium, das er selten benutzte – an einem Brunnen an einem Stadttor sitzend, dessen Wasser angeblich heilende Kräfte besaß und jede Frau von Rückenschmerzen kurieren konnte. Er malte sie skizzenhaft in Öl, während sie Wasser aus einem der kunstvoll gekachelten Trinkbrunnen in der Stadt schöpfte oder aus den hohlen Händen trank, die schwingenden Ärmel ihres Kaftans weit zurückgeschoben, damit sie nicht nass wurden. Und bei den Merinidengräbern, die sie noch einmal mit Celeste und den Mädchen zusammen besuchten, skizzierte er sie halb hinter einer bröckelnden Mauer verborgen, sodass sich vor ihr der weite Blick auf die Stadt ausbreitete. Und jedes Mal, wenn sie für ihn Modell saß, spürte Dimity jeden Strich seines Stiftes oder Pinsels, als wären es nicht seine Augen, sondern seine Hände, die unablässig aufmerksam über ihren Körper glitten. Sie erschauerte unter diesem Blick und spürte, wie ihre Haut brannte bei jeder eingebildeten Berührung seiner Finger. Zwei-, dreimal hatte er sie schon bitten müssen, die Augen zu öffnen, weil sie sie unbewusst geschlossen hatte. All ihre Aufmerksamkeit war dann nach innen gerichtet, auf diese ekstatischen Empfindungen.
    Doch wenn Celeste das zufällig sah, lächelte sie nicht. Sie blickte ernst drein und fragend, als könnte sie Dimitys Gedanken lesen und hätte einen Verdacht, weshalb sie so die Augen schloss. Als Charles mit ihnen über das große Gemälde sprach, das er plante – eine Szene auf dem Berbermarkt mit einem jungen Mädchen als Symbol all dessen, was in einer unfruchtbaren Landschaft bezaubernd sein konnte –, merkte Celeste an, dass er doch die Wahl unter zwei echten Berbermädchen und einer Berberfrau für sein Gemälde habe. Dimity war einen Moment lang besorgt, doch Charles zuckte nur mit den Schultern und sagte geistes abwesend: »Ich sehe Mitzy darin. Sie hat das perfekte Alter.« Perfekt, perfekt … Das Wort klang wie ein

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