Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
erstarrte und hielt den Blick gesenkt, anscheinend fest entschlossen, nicht darauf zu reagieren. Zach wartete auf ein weiteres Geräusch, doch im Haus herrschte wieder tiefe Stille. Die Haut zwischen seinen Schulterblättern kribbelte, als stünde jemand dicht hinter ihm, so nah, dass Zach den fremden Atem spürte.
»Dimity«, sagte er sanft. »Wer ist da oben?«
»Niemand.« Ihr Blick wirkte fest, doch darunter lag eine flehentliche Bitte, die er nicht verstehen konnte. »Nur Ratten im Dach«, behauptete sie. Zach wartete noch einen Moment, doch er wusste, dass er nicht mehr von ihr erfahren würde.
Dimity folgte ihm zur Tür und blieb auf der Schwelle stehen, als er ins Licht hinaustrat. An einem Nagel neben der Tür hing ein großes Bündel getrockneter Algen. Sie hat ten lange, dicke Finger, die aus einem kurzen Stamm hervorwuchsen, und raschelten wie weiches Papier, als Dimity mit den Fingern daran hinabstrich.
»Gibt heute noch Regen«, bemerkte sie, und als sie Zachs fragende Miene sah, nickte sie. »Lederblatt. Wenn Regen kommt, nimmt es die Feuchtigkeit aus der Luft auf und wird schlaff, so wie jetzt.« Ihr Lächeln erlosch. »Es kommt ein Sturm. Seien Sie vorsichtig«, sagte sie. Zach blinzelte und fragte sich, ob das eine Warnung war oder eine Drohung. »Würden Sie mir das Bild aus Marokko dalassen? Würden Sie mir das Bild geben?«, fragte sie plötzlich und hielt ihn am Ärmel zurück, als er sich abwandte.
»Natürlich.« Er holte den Ausdruck aus seiner Tasche und reichte ihn ihr, und sie schnappte danach, gierig wie ein Kind. Zach drückte zum Abschied kurz ihren Arm.
Auf halbem Weg zurück ins Dorf erregte eine Bewegung vor ihm Zachs Aufmerksamkeit, und er blickte auf und sah Wilf Coulsons gebeugte Gestalt. Der alte Mann machte kehrt und verschwand um die nächste Biegung. Zach lief ein Stück, bis er ihn eingeholt hatte.
»Hallo, Mr. Coulson. Waren Sie auf dem Weg zu Dimity?«, fragte er.
»Das geht Sie nichts an«, entgegnete Wilf Coulson. Er trug eine zugeknöpfte Tweedweste unter seiner alten Jacke, die Flicken an den Ellbogen hatte. Sein Haar war ordentlich auf eine Seite gekämmt. Zach verkniff sich ein Lächeln.
»Sie haben sich für sie ein bisschen fein gemacht, wie ich sehe«, bemerkte er. Wilf blieb kurz stehen und funkelte ihn an.
»Wie ich schon sagte, es geht Sie gar nichts an, was ich tue oder was sie tut, oder sonst irgendwer …«
»Ja, da haben Sie recht. Aber das ist das Problem mit uns Menschen, nicht wahr? Wir können es nicht ertragen, etwas nicht zu wissen. Unwissenheit halten wir nicht aus.«
»Manche betrachten sie als Segen, soweit ich weiß«, erwiderte der alte Mann spitz. »Wonach haben Sie sie gefragt?«
»Aha – sehen Sie, Mr. Coulson? Sie möchten auch etwas wissen.«
»Der Unterschied ist, dass mich die Antwort wenigstens teilweise etwas angeht.« Der alte Mann marschierte langsam weiter, und Zach ging neben ihm her.
»Ich weiß. Mr. Coulson, können Sie sich erinnern, wie Élodie Aubrey gestorben ist? Aubreys jüngere Tochter?«
»Die sind hübsch für sich geblieben. Und keiner hat sie gefragt.«
»Wirklich nicht? Ein neunjähriges Mädchen stirbt in einem so kleinen Ort, und das interessiert niemanden?«
»Grippe, hat der Arzt damals gesagt. Darmgrippe oder so. Also ist sie eines natürlichen Todes gestorben, obwohl manche damals was anderes behauptet haben. Aber es gab keine amtliche Untersuchung, niemand hat Fragen gestellt. Damals wussten die Leute eben noch, wann man sich lieber raushält.«
»Wer hat etwas anderes behauptet? Und was?«, fragte Zach, doch der alte Mann reckte störrisch das Kinn und ant wortete nicht. »Deshalb ist Celeste also verschwunden und Charles Aubrey an die Front gegangen?«, fuhr Zach fort.
»Woher soll ich das wissen? Kann ich vielleicht in die Leute reinschauen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe Dimity letzte Woche erzählt, dass ich Sie kennengelernt habe. Sie hat gesagt, dass Sie ein guter Mann seien.« Der alte Mann warf Zach einen Blick zu.
»Das hat sie über mich gesagt?« Seine Stimme war leise und traurig.
»Ja. Ich glaube, sie würde sich freuen, Sie wiederzusehen, obwohl sie es ein bisschen komplizierter ausgedrückt hat. Das Wasser fließt hier sehr langsam den Bach herunter, nicht?«
»Ja. Kann man so sagen.« Wilf blieb stehen, drehte sich um und schaute mit gerunzelter Stirn zu The Watch zurück.
»Wenn ich mit Dimity spreche, habe ich manchmal das Gefühl, dass sie – so einiges
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