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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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stimmte nicht, und Celeste wusste das auch, anders war ihre rasende Wut nicht zu erklären. Dimity konnte sich nicht vorstellen, sie je wiederzusehen und zu versuchen, sich bei ihr zu entschuldigen. Der Gedanke war unerträglich, doch sie wusste nicht, wie sie das vermeiden sollte. Wenn sie nicht zu dem Gästehaus zurückging, konnten die Aubreys sie nicht wieder mitnehmen, sie nicht zwingen, nach Blacknowle zurückzukehren. Aber was nützte das, wenn Charles abreiste? Heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht, noch heißer als die drückende Nachmittagssonne.
    Eine Weile döste sie vor sich hin und träumte, dass Charles sie suchte, sie in die Arme schloss und ihre Ängste mit Küssen besänftigte. Die Bilder taten weh. Stimmen schreckten sie aus dem Schlaf. Zwei Frauen standen vor ihr, die eine in aschfarbene Gewänder gehüllt, hinter denen nur ihre Augen wie zwei Kohlen hervorlugten. Die andere hatte diese pechschwarze Haut, die Dimity so faszinierte, und wenn sie sprach, schimmerten ihre Zähne so weiß wie ein Wellenkamm bei Nacht. Die schwarze Frau lächelte und fügte dem Wortschwall der verschleierten Frau sanfte, leise Worte hinzu. Dimity konnte nicht erkennen, ob die ver hüllte Frau ebenfalls lächelte oder ob sie zornig oder neugierig war. Sie war anonym, ausdruckslos bedrohlich. Dimity hatte keine Ahnung, was die beiden sagten, also blieb sie einfach sitzen, sagte nichts, rührte sich nicht. Ihr Herz begann zu pochen. Die Frauen wechselten einen Blick, dann streckte die schwarze Frau die Hand aus, legte sie auf Dimitys Arm, zog sanft an ihr und bedeutete ihr mit der anderen Hand, aufzustehen und sie zu begleiten. Di mity schüttelte heftig den Kopf, denn auf einmal fielen ihr Delphines Geschichten über weiße Sklavenhändler wieder ein. Die schwarze Frau zog an ihr, und Dimity sprang auf, riss sich los und floh. Sie taumelte in ihrer Hast und rechnete damit, jeden Augenblick wieder greifende Hände zu spüren.
    Sie rannte, bis ihre Brust stach und sie nicht mehr weiter konnte. Ihre müden Füße traten Staub und Dreck vor ihr her, und hin und wieder stolperte sie auf dem Pflaster. Die Gebäude von Fès ragten hoch und schmucklos zu beiden Seiten auf, überall bröckelte der Putz von rötlichen Wänden. Die Fenster waren hinter verwitterten Fensterläden verborgen, und hier gab es keine Balkone, kein emsiges Gedränge. Dimity blieb stehen, und eine neue Angst überkam sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand oder wie sie das Gästehaus wiederfinden sollte. Sie wusste nicht einmal, wie sie ein Stadttor, einen Ausgang aus diesem Irrgarten finden könnte. Langsam drehte sie sich im Kreis. Sie keuchte. Zieh nicht auf eigene Faust los, ja, Mitzy? Die riesigen Türen zur Straße hin waren abweisend geschlossen, in ihren kunstvollen, filigranen Schnitzereien fingen sich Wüstensand und Straßenstaub. Einen Moment lang dachte Dimity daran, an eine dieser Türen zu klopfen und nach dem Weg zu fragen, als könnte dahinter ein vertrautes Gesicht erscheinen, jemand, den sie von zu Hause kannte. Aber sie würde nicht einmal den Namen des Gästehauses nennen können, oder die Straße, an der es lag, noch würde sie die Antwort verstehen. Ihre Beine waren schwer vor Erschöpfung, die Hitze zog an ihr wie ein Anker. Sie konnte den muezzin nicht mehr hören und summte die einzigen Wörter vor sich hin, die sie sich aus seinem Lied hatte merken können, als würden die sie wieder zu dem grünen Turm führen, der nicht weit von ihrem riad entfernt war. Allahu akbar, Allahu akbar …
    Neben ihr knarrte eine Tür, und ein dünner Mann spähte mit scharfem, neugierigem Blick heraus. Dimity schnappte nach Luft, verstummte und schüttelte den Kopf, als der Mann eine verwirrende Salve von Wörtern ausstieß. Sie drehte wieder um, lief in die Richtung, aus der sie gekommen war, und als sie über die Schulter zurückblickte, stand der Mann mitten auf der Straße und beobachtete sie. Der Staub in ihren Schuhen scheuerte die Haut an ihren Fersen und Zehen auf. Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht und spürte körnigen Sand an den Fingerspitzen und an ihren Lidern. Immer weiter eilte sie, und mit jedem Schritt wuchs ihre Panik, die in ihrer Brust und ihrem Kopf wild mit den Flügeln schlug, sodass sie kaum mehr denken konnte. Ein Labyrinth, so hatte Charles die Altstadt bezeichnet, und sogar Dimity wusste, was das bedeutete: Ein Labyrinth war ein Ort, dem man niemals entkommen konnte, dazu geschaffen, einen Menschen

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