Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
gefangen zu halten und in den Wahnsinn zu treiben. Ein Ort mit falschen Wegen und Sackgassen und einem Ungeheuer in der Mitte.
Sie lief stundenlang umher. Dabei bemühte sie sich, mög lichst immer geradeaus zu gehen und nirgends abzubiegen. Sie hoffte, dadurch schließlich die Wüste zu erreichen, aber die Stadt nahm kein Ende. Als Nächstes versuchte sie es damit, an jeder Ecke rechts abzubiegen, landete aber immer wieder auf demselben kleinen Platz, wo ein halb verhungerter Hund sie misstrauisch beäugte. Als sie einen anderen Weg einschlug, stieß sie auf einen Basar, und Hoffnung flammte in ihr auf, bis sie merkte, dass er viel kleiner war als der, den sie mit Charles besucht hatte. Und wieder wandte sie sich leeren Straßen zu. Sie fühlte sich beobachtet, als lauerte irgendwo etwas Bösartiges und warte nur darauf, dass sie zusammenbrach. Schließlich stand sie vor einer steinernen Treppe. Sie verschnaufte kurz und schleppte sich dann mit schweren Beinen die Stufen hinauf in der Hoffnung, einen Aussichtspunkt zu erreichen, von dem aus sie irgendetwas Vertrautes würde sehen können. Doch die Stufen endeten an einer hohen Mauer, über die sie nicht hinwegschauen konnte, und einer weiteren bogenförmigen Tür, durch die sie nicht weiterkam. Sie gab es auf und hämmerte an die Tür, bereit, sich der Gnade derjenigen auszuliefern, die hier wohnten. Vielleicht eine gütige Frau, die ihr etwas zu trinken geben und sich umhören würde, um ihr helfen zu können. Sie klopfte lange, doch niemand öffnete die Tür. Sie hörte nicht auf, bis ihre Fingerknöchel zu bluten begannen. Dann ließ sie sich an der erbarmungslosen Wand herabsinken und konnte das Schluchzen nicht mehr zurückhalten.
Ihre Kehle war staubtrocken. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so durstig gewesen, noch nie so verloren und verängstigt. Obwohl die Sonne bereits zu sinken begann, brannte sie noch immer grell in ihren Augen und ließ ihren Kopf brummen. Sie wusste nicht, wie lange sie auf dieser Treppe gesessen hatte, als sie schließlich die Kraft fand, auf zustehen und wieder hinunterzusteigen. Wieder hinab in das Labyrinth aus Straßen und Gassen, den unzähligen Ecken und Winkeln, Nischen und Türen. Sie lief, bis ihre Beine bei jedem Schritt zitterten, schwach vor Erschöpfung, und schließlich erreichte sie wieder eine Gegend mit Geschäften und Menschen, die an ihr vorbeieilten oder in Grüppchen beisammenstanden und sich unterhielten.
Das war zugleich eine Erleichterung und eine Sorge mehr. Dimity wünschte, sie hätte auch lange, graue Tücher, mit denen sie ihren Kopf und ihr Gesicht bedecken und sich gegen die Blicke der Männer schützen könnte. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Frauen sich verhüllten, dachte sie, denn diese Augen, die sie beobachteten, erschienen ihr hart und berechnend, feindselig und forschend. Selbst wenn sie der Sprache dieser Leute mächtig gewesen wäre, hätte sie zu viel Angst vor ihnen gehabt, um sie um Hilfe zu bitten. Sie war rettungslos verloren, dazu verurteilt, ewig durch diese Straßen zu streifen wie ein Geist, ein Gespenst. Sie kämpfte darum, sich ihre Panik und Schutzlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Dann bog sie um eine Ecke und stieß auf einen prächtig gekachelten Brunnen, aus dem Wasser in einen steinernen Trog plätscherte. Mit einem Aufschrei der Erleichterung taumelte sie darauf zu und schöpfte gierig Handvoll um Handvoll direkt unter dem Messingrohr. Sie spürte die Wohltat in ihrer ausgedörrten Kehle und trank so viel Wasser, dass ihr Bauch anschwoll. Erleichtert wusch sie sich die Hände und rieb sich über das schmutzige Ge sicht. Als sie fertig war, drehte sie sich um und sah, dass sich hinter ihr ein kleiner Halbkreis aus Männern gebildet hatte. Dimity erstarrte. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, undurchdringlich, die Münder schmale Striche, die Blicke wachsam. Zieh nicht auf eigene Faust los, ja, Mitzy? Wieder hallten Charles’ Worte, in denen eine unterschwellige Warnung lag, durch ihren Kopf. Was würde denn passieren, wenn ein Christ da hineinginge? Ich glaube, das sollte man lieber nicht herausfinden. Sie erkannte, dass sie ihr den Weg versperrten, denn sie standen nicht weiter als auf Armeslänge voneinander entfernt.
Dimitys Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, und sie hatte Mühe, das Wasser bei sich zu behalten, das sie gerade getrunken hatte. Sie sah sich in der anderen Richtung nach einem Fluchtweg um – hinter dem Brunnen lag eine leere
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