Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
und ein Tröpfchen seines Speichels auf ihrer Wange landete.
»Ich verstehe das nicht!«, rief Dimity aus, und Charles funkelte sie zornig an, halb verrückt vor Ungeduld. »Ich darf sie nicht wecken, sie hatte heute Nachmittag …«
»Dann musst du eben allein kommen. Celeste und Élodie – sind sehr krank. Du musst ihnen helfen.«
»Aber ich …« Charles unterbrach ihren Protest, indem er sie zum Auto zerrte. Sie stieg gehorsam ein, doch ein plötz liches, entsetzliches Grauen knüpfte Knoten in ihrer Brust, sodass sie auf einmal nach Luft ringen musste.
Und tatsächlich, Charles brachte sie nach Littlecombe, dem letzten Ort auf Erden, an dem sie sein wollte. Er fuhr in halsbrecherischem Tempo und stieß beinahe mit dem Lieferwagen des Bäckers zusammen, als sie aus der Abzwei gung zu The Watch auf die Straße hinausschossen. Dimity schloss die Augen und rührte sich nicht, als der Wagen vor dem Haus hielt. Charles musste sie am Arm aus dem Auto zerren. Seine Finger bohrten sich in ihre Haut, und er biss die Zähne zusammen.
»Ich habe zwei Ärzte angerufen, aber beide sind meilenweit weg bei anderen Patienten … Sie können frühestens in einer Stunde hier sein. Sie haben beide gesagt, ich soll ihnen viel Wasser zu trinken geben, aber … Aber sie können es nicht bei sich behalten. Sie können es kaum schlucken! Du musst ihnen helfen, Dimity. Du kannst ihnen doch sicher irgendetwas geben. Irgendwelche Kräuter …«, sagte er. Sie musste rennen, um nicht von den Füßen gerissen zu werden, so hastig zog er sie zur Haustür. Auf der Schwelle stemmte sie die freie Hand gegen den Türrahmen und entriss ihm ihren Arm. Er blieb stehen. »Was machst du denn? Komm schnell!«, rief er.
»Ich habe Angst!«, sagte sie. Das stimmte, doch sie konnte nicht in Worte fassen, wie gewaltig, grauenhaft und wirr diese Angst war. Auf einmal erschien ihr die Haustür wie das Tor zur Hölle, der Eingang zur Höhle einer ge fährlichen Bestie. Charles starrte sie mit Tränen in den Augen an.
» Bitte, Dimity«, sagte er verzweifelt. »Bitte hilf ihnen.« Ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu versuchen.
Sie waren im größten Schlafzimmer, beide zusammen im Bett. Celeste saß halb aufrecht an die Wand gelehnt, mit Erbrochenem auf der Bluse, von dem nur ein Teil in einer Schüssel gelandet war. Ein langer, dicker Speichelfaden hing von ihrem Kinn, der beständig nachtroff, ohne abzurei ßen. Alle paar Sekunden zuckte sie krampfhaft, als bekäme sie einen Stromschlag. Der Gestank in dem Raum war entsetzlich. Delphine kniete mit gequälter Miene neben dem Bett und hielt die Hand ihrer Mutter. Auf der anderen Seite des Bettes lag Élodies kleine Gestalt, verzerrt und reglos.
»Élodie geht es schlechter. Kümmere dich zuerst um sie«, sagte Charles, schob Dimity zum Bett und eilte dann zu Celeste und Delphine hinüber.
»Oh, bitte tu etwas, Mitzy! Du weißt doch bestimmt, was du ihnen geben kannst. Du musst irgendein Heilmit tel kennen! Bitte!«, flehte Delphine sie an, die Stimme heiser vom Weinen.
»Ich … Ich weiß nicht. Was fehlt ihnen denn?«, stammelte Dimity.
»Ich weiß es nicht! Sie haben irgendetwas Falsches gegessen – das muss es sein! Etwas, das ich gepflückt habe … Ich bin allein sammeln gegangen und habe Mummy ein paar Kräuter fürs Mittagessen dagelassen, und sie hat eine Suppe damit gekocht, und Élodie hat auch davon gegessen, als wir nach Hause kamen, aber ich nicht und Daddy auch nicht … Ich muss etwas Falsches gepflückt haben, Mitzy! Ich war mir sicher, dass alles richtig war – dass ich alle Pflanzen kannte, die ich gefunden habe, aber ich muss einen Fehler gemacht haben, oder? Ich habe bestimmt einen Fehler gemacht!« Sie schlug sich schluchzend die Hände vors Gesicht, ließ sie jedoch gleich wieder sinken, um Celestes Hand zu umklammern, als diese sich erneut übergab. Ein Mundvoll gelber Flüssigkeit lief ihr übers Kinn, und dann krampfte sie so stark, dass sie sich den Kopf an der Wand anschlug. Ihre Arme stemmten sich starr gegen die Matratze. Von der anderen Seite des Bettes aus sah Dimity ihre Augen. Schwarz wie die Nacht, wie eine Lüge, wie Mord. Die Pupillen waren so geweitet, dass von der blauen Iris fast nichts mehr zu sehen war. Ihre Augen wirkten wie offene Türen, so weit offen, dass ihre Seele entfleuchen konnte. Auf einmal öffnete sie den Mund und stieß etwas auf Französisch hervor, unverständliche, hastige Laute, die eher klangen wie etwas, das ein Tier von sich
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