Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
geben würde. Del phine wimmerte und versuchte die Hände ihrer Mutter festzuhalten, doch Celeste entriss sie ihr und starrte mit diesen riesigen schwarzen Augen um sich, als erschienen ihr für die anderen unsichtbare Ungeheuer.
Dimity hockte sich neben Élodie, nahm ihre Hand und fühlte den Puls. Er war schwach und unregelmäßig. Der ganze Körper des Kindes war nach hinten durchgebogen und starr, jeder Muskel gespannt wie eine Saite. Ihr Gesicht war reglos, die Augen auf einen Punkt fixiert und ebenso geweitet und schwarz wie die ihrer Mutter. Ein Rinnsal Speichel sickerte unter ihr in die Matratze. Sie sah aus wie ein Dämon, wie besessen. Dimity schauderte es, als sie das Ohr an den offenen Mund des Mädchens hielt und einen leichten Hauch von Luft spürte. Dimitys Kopf war so leer wie diese schwarzen Augen. Sie wollte nur noch fort aus diesem Zimmer, weg von diesem Totenbett, denn nichts anderes war es. Sie hatten die Wurzeln gegessen, tückisch süß und köstlich. Wenn sie überhaupt noch zu retten waren, dann durch nichts, was Dimity ihnen hätte geben können. Die Ärzte waren ihre einzige Chance, doch auch dann hing es noch davon ab, wie lange sie auf Hilfe warten mussten.
»Wann hat das angefangen?«, fragte sie hölzern. Auf ein mal war sie sehr schläfrig. Sie wollte sich hinlegen, die Augen schließen und träumen.
»Ungefähr vor zwei Stunden. Celeste hatte Ma genschmerzen, als wir von unserem Ausflug zurückkamen, und als sie anfing, sich zu übergeben, hatte Élodie auch schon von der Suppe gegessen und fühlte sich schlecht. Was kannst du ihnen geben? Was können wir tun?« Charles stand mit hängenden Armen da und biss sich auf die Un terlippe, während er Dimity mit der scharfen Aufmerk samkeit eines Falken anstarrte. Sie sah ihm an, dass er von ihr erwartete, die beiden zu retten, sie wieder gesund zu machen, und schluckte den plötzlichen, irren Drang herunter, laut zu lachen. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und sah seine hoffnungsvolle Miene zusammenfallen. Es war zu spät. Nach zwei Stunden war das Gift schon tief in ihre Körper eingedrungen, zu tief, um es wieder herauszuholen.
»Ich kann nichts für sie tun. Das Gift ist zu stark. Ich habe – das schon einmal gesehen.« Ratten. In einer Ecke des Zimmers zuckten und wanden sie sich in einem Todestanz. Sie sprang auf und fuhr entsetzt zu der Ecke herum.
»Du weißt also, was es war? Was sie gegessen haben?«, fragte er. Dimity konnte die Luft kaum lange genug in der Lunge behalten, um ihm zu antworten. Sie nickte und spürte, wie Celestes leere, tintenschwarze Augen sie beobachteten. Kaltes Grauen glitt kribbelnd ihren Rücken hinab, und sie schwankte.
»Kuhtod«, sagte sie schließlich. »Wasserschierling.« Schier ling. Den Namen kannten sie. Charles wurde noch bleicher. Delphine starrte sie mit offenem Mund und erschlafftem Kiefer an.
Eine lange Pause entstand, in der nur Celestes keuchender Atem und die gurgelnden Geräusche zu hören waren, die aus ihrer Kehle drangen, wenn sie erneut von Krämpfen gepackt wurde. Von Élodie kam kein Laut.
»Du meinst …« Charles räusperte sich und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Du meinst, sie könnten daran sterben? Könnten sie sterben?« Er klang völlig fassungslos und ignorierte Delphine, die von Neuem zu schluchzen be gann. Dimity begegnete Charles’ Blick und schaffte es, nicht zurückzuzucken. In dem Raum drängten sich Schatten und Teufel, verzerrte Rattenkörper und pechschwarze Augen, er schwamm in einem abscheulichen Meer aus Speichel und Galle. Dimity hatte das Gefühl, dass ihr Geist gleich zerreißen und auseinanderfliegen würde.
»Ja«, sagte sie. Charles starrte sie an, wie gelähmt von diesem Wort. »Bringen Sie sie ins Krankenhaus. Sofort. Sie können nicht auf den Arzt warten oder auf einen Krankenwagen – fahren Sie sofort los. Dorchester. Sagen Sie den Ärzten, was sie gegessen haben …«
»Aber du kommst doch mit? Du kommst mit und hilfst uns. Nimm Élodie. Delphine! Mach uns die Türen auf!« Charles hievte Celestes zuckenden Körper auf seine Arme und trug sie zur Tür, und Delphine eilte ihm voraus, um den Weg frei zu machen. Dimity blieb allein mit Élodie zurück. Sie hob sie hoch, langsam, beinahe zärtlich. Der dünne, kleine Körper fühlte sich an wie eine seltsame Art Holz, hart und steif und dennoch warm. Dimity sah nicht die geringste Bewegung in ihrem Gesicht, keinerlei Veränderung, als sie Élodie hochhob. Auf dem Weg zu dem
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