Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
wieder hierherkommen. Zu viele schreckliche Erinnerungen …«
»Dann gehen wir weg! Ganz gleich, wohin … Ich gehe mit dir, wohin du auch willst, und dann können wir unser neues Leben beginnen. Ein frisches Leben, ohne Geister, ohne Tod …« Dimity trat dicht an ihn heran, nahm seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Innig blickte sie zu ihm auf, doch Charles riss seine Hand zurück. Seine Augen wur den groß und finster.
»Wie sprichst du mit mir?« Er lachte unvermittelt, ein hässlicher, bellender Laut. »Sei doch nicht albern. Verstehst du denn nicht? Alles ist zerstört! Ich bin zerstört. Ich kann nicht mehr zeichnen, ich kann nicht mehr schlafen oder klar denken, seit – seit Élodies Tod. Nur noch dunkle, schreckliche Gedanken.« Abrupt schüttelte er den Kopf, und sein Gesicht verzerrte sich vor Kummer. »Ich vermisse sie. Sie fehlt mir so sehr. Und jetzt habe ich auch noch Celeste verloren. Meine Celeste.«
»Aber du liebst mich! In Fes, da – hast du mich gerettet. Du hast mich geküsst. Ich weiß, dass du mich liebst, so, wie ich dich liebe! Ich weiß es!«, rief Dimity aus.
»Genug jetzt! Ich liebe dich nicht, Mitzy! Du bist eine Freundin, und früher warst du mir beinahe wie eine Tochter … Aber das war früher. Und ich hätte dich nicht küssen dürfen. Das war ein Fehler, und du musst das jetzt endlich vergessen. Hast du verstanden?«
Als Dimity ihm antwortete, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, denn seine grausamen Worte trafen sie so tief, dass es ihr den Atem verschlug.
»Was soll das heißen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht.«
»Herrgott, Mädchen, hast du den Verstand verloren? Hör auf mit diesem Unsinn! Ich bleibe keinen Augenblick länger hier. Ich muss Celeste finden. Die Welt ist verdorben, Mitzy. Verdorben und verfault. Ich kann das nicht ertragen! Falls du Celeste sehen solltest – falls sie hierher zurückkommt, wenn ich weg bin, sei bitte gut zu ihr und kümmere dich um sie. Sag ihr, dass ich sie liebe und – dass sie hier auf mich warten soll, bis ich sie hole. Sie kann mich jederzeit anrufen oder mir schreiben … Bitte. Würdest du das für mich tun, Mitzy? Versprich mir, dass du dich um sie kümmern wirst, falls sie hierher zurückkommt.«
»Bitte geh nicht. Verlass mich nicht, bitte«, flehte Dimity.
»Dich nicht verlassen? Wovon sprichst du eigentlich? Das alles hat gar nichts mit dir zu tun.«
»Aber – ich liebe dich.«
Da sah Charles sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, den Dimity noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Ein Ausdruck wie Ärger und Abscheu. Aber das konnte nicht sein, also erkannte sie ihn nicht. Charles wandte sich von ihr ab und ging zu seinem Wagen. Sie folgte ihm, hielt sich dicht hinter ihm. Sie hatte den Griff der Beifahrertür in der Hand, als der Wagen mit einem heftigen Ruck anfuhr, der ihr die Finger verbog und sämtliche Fingernägel abbrach. Blut sickerte darunter hervor. Als das Automobil verschwun den war, blickte sie an sich hinab, musterte und prüfte ihren Körper hier und da und fragte sich, wo sie noch blutete, denn es fühlte sich an, als rinne das Leben aus ihr heraus, um im steinigen Boden zu versickern.
Eine Woche nachdem Charles nach London aufgebrochen war, um Celeste zu suchen, wurde der Krieg erklärt, und Reisen war nur noch eingeschränkt möglich. Die Nachricht verbreitete sich im ganzen Land, bis hin nach Blacknowle, wie der erste kalte Wintersturm. Doch dieser Sturm legte sich wieder, als anscheinend nicht viel geschah. Wenn etwas passierte, sagten die Leute, dann weit weg von hier. Kuppelförmige Aussichtsposten aus Beton wurden an der Küste errichtet, seltsame, waffenstarrende Schiffe zogen den Ärmelkanal hinauf und hinunter. Einige der Bauernsöhne folgten den Aufrufen und meldeten sich freiwillig zur Ar mee – sie fuhren nach Dorchester und verschenkten mit einer Unterschrift ihr Leben. Dimity bekam von alldem kaum etwas mit. Sie konnte nur an Charles denken und dar an, wie sie all seinen Kummer mit ihrer Liebe heilen würde, wenn er zurückkam. Sie würde ihn damit erfüllen, und er würde erkennen, wie viel besser es war, dass Celeste fortgegangen war. Sie erinnerte ihn doch nur unablässig an schreckliche Dinge. Er würde Dimitys Liebe erwidern, und dann endlich, endlich würde dieser Albtraum ein Ende haben, sie würden vereint sein. Zusammen, als Mann und Frau, ohne Getuschel über Dimity oder über ihre Beziehung. Keine Gerüchte mehr, kein Skandal – sie
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