Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
um sich.
»Also ist er fort«, sagte sie leise. »Wahrhaftig von uns ge gangen, auf ewig.« Aus diesen Worten klang ein solcher Kum mer, dass Zachs freudige Erregung einen Dämpfer bekam und er auf einmal selbst traurig wurde.
»Wer ist gegangen, Dimity?«, fragte Zach. Er hockte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf den Arm. Ihr Gesicht war tränennass, und ihr Blick glitt immer wieder durch den Raum, als suchte sie trotzdem noch nach jemandem.
»Charles natürlich! Mein Charles!«
»Also war er hier – hier in diesem Raum? Charles Aubrey war hier? Wann war das, Dimity?«
»Wann? Wann?« Die Frage schien sie zu verwundern. »Immer. Er war immer hier bei mir.« Zach blickte verwirrt zu Hannah auf und sah sie wieder einmal die Lippen zusammenpressen, obwohl sie offensichtlich einiges zu sagen gehabt hätte. Er wandte sich erneut der alten Frau zu.
»Charles hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, Dimity. Er ist zur Armee gegangen und bei Dünkirchen gefallen. Das ist doch richtig, oder? Erinnern Sie sich daran?« Dimity bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, und als sie ihm antwortete, schwangen Stolz und Trotz in ihrer Stimme mit.
»Er ist in den Krieg gezogen, aber er ist nicht gefallen. Er ist zu mir zurückgekommen und für den Rest seines Lebens bei mir geblieben.«
»Das ist einfach nicht möglich«, hörte Zach sich sagen, doch dabei glitt sein Blick zu Hannah hinüber, und die nickte.
»Es stimmt wirklich«, sagte sie leise. »Er ist erst vor sechs Jahren gestorben. Hier. Er ist in diesem Zimmer gestorben.«
»Du meinst …« Zachs Gedanken überschlugen sich. Er hatte Mühe, den beiden zu folgen und zu begreifen, was er da hörte. »Du meinst, du hast ihn gesehen? Du kanntest Charles Aubrey?« Beinahe hätte er laut gelacht, so absurd hörte sich das an. Doch Hannah lachte nicht.
»Ich habe ihn gesehen, ja. Aber wir kannten uns nicht. Er war … Er war schon tot, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.«
»Tot«, wisperte Dimity, und ihre Miene wurde wieder traurig, ihr ganzer Körper schien schlaff in sich zusammenzufallen. Zach starrte erst sie an, dann Hannah, und danach das schmale Bett mit dem schmuddeligen Bettzeug und der Mulde im Kissen.
»Ich glaube, irgendjemand muss mir das alles jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach erklären«, sagte er und schüttelte fassungslos den Kopf.
Dimity sang das Lied von »Bobby Shaftoe« vor sich hin, immer wieder. Und kehrt er heim, wird er mich frei’n, mein feiner Bobby Shaftoe. Das Lied wurde zu einem Gebet, einem ständig wiederholten Mantra im Rhythmus ihrer rastlosen Schritte, während sie lief, Ausschau hielt, lief und wartete. Valentina hörte sie und versuchte, diese Vorstellung aus ihr herauszuprügeln. Er ist weg, begreifst du das nicht? Er kommt nicht zurück. Doch Dimity hielt an ihrer Überzeugung fest. Charles würde sie nicht in Blacknowle zurücklassen. Verges sen, verschmäht. Allmählich sickerten die Worte des Liedchens immer tiefer in ihren Geist ein, bis sie zu einer Wahr heit wurden. Und kehrt er heim, wird er mich frei’n … Sie wurden zu dem, was wahrhaftig auf sie wartete, denn die Alternative war unerträglich. Die Alternative war diese erdrückende, einsame Ewigkeit, die sie auf der Klippe neben Celeste gesehen hatte. Die würde sie nicht überleben, das wusste sie, also sang und glaubte sie weiter.
Als der erste Frost beißend in der Luft lag und die letzten Äpfel in Fässern gelagert waren, suchte sie tatsächlich jemand auf, aber es war nicht Charles Aubrey, der da kam. Es war eine große, elegante Dame mit kastanienbraunem Haar, das zu einem makellos gedrehten Knoten an ihrem Hinterkopf zurückgekämmt war. Sie trug einen feinen grünen Mantel und weiße Handschuhe aus Ziegenleder, und auf ihrem Mund schimmerte scharlachroter Lippenstift. Ein Taxi wartete mit laufendem Motor hinter ihr, und sie stand mit strenger, unglücklicher Miene vor der Tür von The Watch. Als Dimity ihr öffnete, wurde sie von grauen Augen rasch gemustert, von den Füßen bis zum Kopf.
»Sind Sie Mitzy Hatcher?«
»Die bin ich. Und wer sind Sie?« Sie betrachtete die Frau und versuchte zu raten. Ihr Gegenüber war etwa vierzig Jahre alt und nicht wirklich schön, aber doch auf eine Art gut aussehend. Ihr Gesicht war so glatt und fein gemeißelt wie das einer Statue.
»Celia Lucas. Im Dorf hat man mir geraten, mich an Sie zu wenden … Delphine Aubrey ist wieder einmal von der Schule davongelaufen. Nun ist sie schon seit einer
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