Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
der Klippe zu, dorthin, wo der Pfad quer vor ihnen gut zwanzig Meter über dem Strand verlief. Dimity blieb auf dem Pfad stehen, doch Celeste fuhr sie an: »Nein! Näher. Ich will hinunterschauen.« Also gingen sie näher heran, bis ihre Zehen nur noch Zentimeter von der unruhigen Luft an der Kante entfernt waren. Dimitys Kehle war so zugeschnürt, dass sie nicht mehr schlucken konnte.
Nebeneinander standen sie da und schauten auf den Strand hinab, wo ein paar Urlauber schwammen oder am Strand la gen, während ihre Kinder spielten. Celeste deutete auf ein dunkelhaariges kleines Mädchen, das nah am Wasser im Sand buddelte. »Da! Schau! Oh, könnte sie das nicht sein? Könnte das nicht meine kleine Élodie sein, die sicher und wohlbehalten im Sand spielt?« Sie sog bebend den Atem ein und stieß dann ein tiefes Stöhnen aus. »Wenn es nur so wäre. Wenn . Ach, wäre es nicht leichter, einfach zu springen, Mitzy?«, fragte sie. »Wäre es nicht leichter, gar nicht mehr zu leben?« Dimity versuchte zurückzuweichen, doch Celeste rührte sich nicht.
»Nein, Celeste.«
»Du glaubst das nicht? Du fühlst dich also nicht schuldig an dem, was passiert ist? Du bist zufrieden damit, einfach weiterzuleben, ohne sie? Ich glaube, es wäre leichter, zu sprin gen, zu stürzen und mit ihr zu gehen. Viel leichter.« Sie starrte das Mädchen dort unten mit einem grausig inten siven Blick an. Ihr Mund war geöffnet, und ihre Haut glänzte ungesund.
»Treten Sie zurück, Celeste! Sie haben noch eine Tochter! Was ist mit Delphine?«
»Delphine?« Celeste blinzelte und wandte Dimity den Kopf zu. »Sie ist meine Tochter, ja, aber wie könnte ich sie je wieder so lieben, wie ich sie vorher geliebt habe? Wie könnte ich? Sie wollte niemandem ein Leid antun, dennoch hat sie es getan. Großes Leid. Und sie hat mich nie gebraucht, nicht so wie Élodie. Sie hatte Charles schon immer lieber als mich.«
»Sie liebt Sie «, sagte Dimity und schnappte dann nach Luft, weil etwas in ihren leeren Geist hineinfuhr, wie im mer, wenn sie an Delphine dachte. Dieses Etwas war so schmerzhaft, dass sie schwankte, gefährlich weit nach vorn auf die leere Luft zu. Celeste sah diese Veränderung in ihr, und beinahe sah es so aus, als würde sie gleich lächeln.
»Du spürst es doch, nicht wahr? Wie viel leichter es wäre.« Und einen Moment lang spürte Dimity es tatsächlich. Die vielen langen Jahre ihres Lebens erstreckten sich vor ihrem geistigen Auge in die Ferne, und diese Leere würde ihre stete Begleiterin sein, weil der Schmerz nie verschwinden würde. Sie konnte nichts ungeschehen machen. Ihre Träume würden immer finster sein, die große, weite Welt immer nur eine ferne Illusion. Ihre einzige Gesellschaft würde Valentinas Verachtung sein, nichts und niemand sonst. Charles war nicht frei und würde es vielleicht niemals sein. Doch der Gedanke an ihn rettete sie. Er rauschte durch ihr Blut wie eine Droge, ein Zauber.
»Nein! Lassen Sie mich los!« Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten, um sich loszureißen, und taumelte ein paar Schritte rückwärts, bis sie unsanft im Gras landete. Dort blieb sie sitzen und wartete ab. Celeste stand noch immer direkt an der Kante. Der heftige Ruck, mit dem Dimity sich befreit hatte, ließ sie taumeln. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht und breitete die Arme aus wie zerbrechliche, ungeübte Flügel. Flügel, die sie niemals retten könnten, falls sie fiele. Sie wackelte, ihre Zehen rutschten über den Rand und brachen ein kleines Stück davon ab, und als sie sich nach Dimity umwandte, fuhr der Wind in ihr Haar und wirbelte es um ihr Gesicht wie einen dunklen Schleier, einen Trauerschleier. Dann geh, wenn du es so sehr willst, dachte Dimity. Sie blieb ganz still sitzen und sah zu. Sie spürte den beruhigend soliden Boden unter sich, krallte die Finger ins Gras und hielt sich fest. Der Wind umkreiste Celeste und lockte sie, versprach ihr, dass sie fliegen werde. Doch dann fiel ihr Blick auf Dimity, und ihre weit aufgerissenen Augen wurden hart. Sie trat zurück. Dimity merkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte, und diesmal lächelte Celeste tatsächlich – ein dünnes Lächeln ohne Belustigung, ohne jede Freude.
»Du hast recht, Mitzy. Ich habe noch eine Tochter. Und ich habe Charles. Mein Leben ist noch nicht vorbei, sosehr ein Teil von mir sich das auch wünschen mag. Noch bin ich hier. Und hier bleibe ich.« Ihre Worte klangen, als schlüge sie eine Tür zu, und Dimity hatte so viele
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