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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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wirre Gedanken im Kopf, so chaotische Gefühle im Herzen, dass sie davon ganz benommen und langsam wurde. »Vielleicht würdest du mich lieber tot sehen – vielleicht ist das die Warnung, die ich spüre, wenn ich dich ansehe. Aber bald wird das keine Rolle mehr spielen. Ich bleibe nicht hier. Dieser Ort ist ein offenes Grab.« Sie stand direkt vor Dimity, schien sie aber kaum noch zu sehen. Sie fügte die hohlen Hände zu sammen, hob sie vors Gesicht und atmete ein, eine seltsame, fremdartige Geste. »Je veux l’air du désert, où le soleil peut allumer n’importe quelle ombre« , sagte sie so leise, dass die Worte sich beinahe im Wind verloren und Dimity nur eines deutlich verstand. Désert . Dimity blieb lange sitzen und stand erst auf, als Celeste schon auf halbem Weg zum Haus war, eine dünne, aufrechte, einsame Gestalt, die ganz ohne ihre Hilfe vorankam.
    Celeste hielt Wort. Zwei Tage später ging Dimity durchs Dorf, als Charles plötzlich aus dem Laden geschossen kam und mit ihr zusammenstieß. Er packte sie bei den Oberarmen und schüttelte sie, ehe er auch nur ein Wort gesprochen hatte.
    »Hast du sie gesehen?«
    »Was? Wen?«
    »Celeste natürlich, du Dummkopf!« Er schüttelte sie noch einmal, und sie verstand weder seinen Gesichtsausdruck noch seinen Tonfall. Da waren Wut, Angst, Frustration, Verachtung. Er war konfus, wie überladen von all den Gefühlen.
    »Nein, seit Montag nicht mehr! Ich schwöre es!«, rief sie. Abrupt ließ er sie los und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Das tat er inzwischen ständig, obwohl sie die Geste vor diesem Sommer noch nie bei ihm gesehen hatte. »Ist sie weggegangen?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht … Ich weiß nicht, wo sie ist. Sie war so seltsam am Montag, als ich aus der Stadt zurückkam, ganz seltsam. Sie hat gesagt, sie müsse sofort abreisen. Ich habe ihr erklärt, dass wir noch ein paar Tage warten müssten, bis sie etwas mehr bei Kräften ist, aber das wollte sie nicht. Ich habe gesagt – gesagt, sie müsse eben warten. Und jetzt ist sie fort, und ich weiß nicht wo, ich kann sie nirgends finden! Hat sie irgendetwas zu dir gesagt? Darüber, wohin sie wollte?« Dimity dachte an Celeste am Rand der Klippe, mit weit ausgestreckten Armen und wehendem Haar, bereit, sich in die Luft zu werfen, zu fallen. Sie schüttelte nur den Kopf, weil sie nicht wusste, wie sie ein Wort herausbringen sollte. Dieser Ort ist ein offenes Grab. »Mitzy! Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Dieser Ort ist ein offenes Grab.« Und das stimmte. Blacknowle war ein Ort zum Sterben. Ihr Zuhause war ein Ort zum Sterben.
    »Wie bitte?«
    »Das hat sie gesagt. Sie hat gesagt: ›Dieser Ort ist ein offenes Grab.‹« Charles erstarrte.
    »Aber … Aber sie kann doch nicht allein zurück nach London fahren! Wo sollte sie denn unterkommen? Wie sollte sie es auch nur bis zum Bahnhof schaffen? Sie ist noch so schwach, ihr könnte weiß Gott was zustoßen.« Seine Lippen waren trocken und rissig, kleine Hautfetzen klebten daran, und Dimity hätte sie am liebsten mit den Fingerspit zen abgezupft und seine Fragen mit Küssen vertrieben. Sie s ah Celeste vor sich, wie sie allein von der Klippe nach Hause gegangen war, langsam, aber entschlossen. Sie war stark genug, um allein zu reisen. Celeste war stark genug für alles. »Und du bist ganz sicher, dass sie sonst nichts gesagt hat? Kei nen Hinweis darauf, wohin sie gegangen sein könnte – hat sie Namen erwähnt, Freunde in London, irgendjemanden?« Dimity schüttelte wieder den Kopf. Da war dieses eine Wort, das sie verstanden hatte. Charles würde irgendwann selbst darauf kommen. Sie wollte ihm keinen Hinweis geben. Sie würde Celeste einen Vorsprung verschaffen, eine Chance, zu verschwinden. Désert. Die Wüste. Ein stilles Wort voller Sehnsucht. Lass sie gehen, drängte sie Charles in Gedanken. Lass sie gehen.
    Charles schwieg lange, während sie langsam nach Littlecombe zurückgingen. »Sie hat recht, nicht wahr?«, bemerkte er schließlich. »Dieser Ort steckt voller Tod. Ich kann nicht … Kann nicht …« Er verstummte, als ein Schluchzen ihm die Kehle zuschnürte. »Hier ist es – jetzt so anders«, murmelte er. »Spürst du das nicht? Als wäre alles, was einmal gut und richtig war, mit ihr fortgegangen und nur Schlechtes und Verdorbenes zurückgeblieben. So ein schweres, einsames Gefühl. Spürst du das auch?«
    »Jedes Mal, wenn du fortgehst«, sagte sie, doch Charles schien sie nicht zu hören.
    »Ich glaube … Ich werde nie

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