Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
um vier Uhr nachmittags ins Bett ging, doch sie konnte weder schlafen noch wieder aufstehen. Sie lag da und summte dieses alte Lied vor sich hin. Als Valentina heraufkam, um sie zu fragen, weshalb das Abendessen nicht fertig war, fand sie die elegante, geprägte Visitenkarte auf dem Nachttisch. Celia Lucas Aubrey .
»Und wer ist das? Wo kommt diese Karte her?«, fragte sie forsch und setzte sich auf die Bettkante. Dimity ignorierte sie und schaute zu, wie das Licht der nackten Birne über ihr ihre Fingerspitzen zum Glühen brachte. Valentina schüttelte sie. »Was ist denn los mit dir? Ist das die Frau, die vorhin da war? Irgendeine Verwandte von ihm?« Stirnrunzelnd musterte sie die Karte erneut. Sein Name stand darauf, oder zumindest ein Teil davon. »Doch nicht etwa seine Frau?«, riet sie. Dimity hörte zu singen auf und funkelte sie an. Etwas kratzte an den Rückseiten ihrer Augen und in ihrem Hinterkopf. Etwas mit scharfen kleinen Krallen, die brennende Spuren hinterließen. Eine Ratte? Abrupt richtete sie sich auf und sah in allen vier Ecken ihres Zimmers nach. Da lagen Ratten auf dem Boden, die zuckten, sich wanden und vor Schmerzen krümmten. Mit einem schrillen Aufschrei schlug Dimity sich beide Hände vor die Augen.
»Nein!«, schrie sie, und Valentina lachte mit zurückgeneigtem Kopf.
»Seine verdammte Ehefrau auf der Suche nach ihm, ja?«
»Nein!«
»Wirst du ihn denn jetzt endlich vergessen? Er kommt nicht zurück, und selbst wenn – er ist verheiratet. Er wird dich nicht heiraten.« Einen Augenblick lang sah Valentina ihre Tochter mit weicherer Miene an, ein beinahe gütiger Ausdruck. »Gib es auf, Mitz. Kommen noch genug andere Männer. Es lohnt nicht, sich deswegen das Herz schwer zu machen.«
»Er wird zurückkommen und mich holen. Er kommt zurück!«, beharrte Dimity.
»Wie du meinst.« Abrupt stand Valentina auf. »Du bist ein verdammter Dummkopf.«
Dimity wartete. Sie hielt den Winter durch und den Frühling. Sie floh aus dem Haus, als Valentina sie einem grauhaarigen Mann vorstellen wollte, zwielichtig und hager, der sie mit so nackter Gier anglotzte, dass allein seine Blicke blaue Flecken zu hinterlassen schienen. Zwei Tage und zwei Nächte lang blieb sie danach draußen, aß kaum, schlief nicht. Sie sang ihre Liedchen und leerte ihren Geist. Sie sagte sich immer und immer wieder, dass Charles zurückkommen würde. Und schließlich kam er auch.
Es war schon fast Sommer, als er es endlich schaffte. In der Abenddämmerung stand Dimity auf der Anhöhe vor Littlecombe. Sie stand dort so lange, dass ihre Beine und ihre Füße kribbelten, weil sie eingeschlafen waren. Sie starrte so lange hinüber, dass sie vergaß, warum sie starrte. Inzwischen dauerte es lange, bis irgendetwas in ihre innere Ruhe durchdrang – was ihre Mutter zu ihr sagte, Leute im Dorf, Wilf Coulson, dessen ratterndes Geplapper aus unverständ lichen Worten ihr in den Ohren schmerzte, sodass sie sich abwandte und davonschlich, wenn sie ihn irgendwo sah. Deshalb begriff sie erst, nachdem sie eine halbe Stunde lang wie angewurzelt dort gestanden hatte, was sie eigentlich sah. Licht schien aus einem der oberen Fenster von Littlecombe. Dieses Licht sagte ihr, dass jeder ihrer Wünsche in Erfüllung ging, jedes ihrer Gebete erhört worden war. Dimity ging langsam hinab zum Haus. Sie brauchte sich nicht zu beeilen. Diesmal würde er bleiben. Diesmal würde er sie nicht verlassen, und sie hatten alle Zeit der Welt. Sie öffnete die Tür, stieg die Treppe hinauf und drückte leicht gegen die angelehnte Schlafzimmertür. Und da saß Charles Aubrey und wartete auf sie – sie hatte immer gewusst, dass er kommen würde.
Sein Geruch war überall. Als sie das Zimmer betrat, hieß dieser Geruch sie willkommen, Charles selbst jedoch nicht. Er saß auf einem kleinen Stuhl am Bett. Das Kinn war ihm auf die Brust gesunken, die Hände hielt er im Schoß gefaltet, die Füße geschlossen wie ein Schuljunge. Seine Kleidung war ruiniert, unförmig und starrte vor Dreck. Die schwere Wolljacke war ihm viel zu groß, die Cordhose hatte löchrige Knie, und an den rissigen Stiefeln fehlten die Schnür senkel. Er war dünner geworden, kantiger. An Schultern, Ellbogen, Knien und Kiefer zeichneten sich scharf die Knochen ab. Sein Haar sah verfilzt und schmutzig aus, die Wangen waren mit wuchernden Bartstoppeln bedeckt, über die rechte Gesichtshälfte verlief eine lange Schnittwunde. Sie war noch mit schwarzem Blut verkrustet, das auch auf der Haut
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