Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
erinnerte.
»Ich bin Zach«, sagte er, und sie lächelte plötzlich.
»Ich weiß«, entgegnete sie.
»Ach, natürlich.« Sie senkte den Blick und drehte sich wieder zu einem Schrank um, aus dem sie saubere Becher holte. Erneut nahm er einen beinahe mädchenhaften, koketten Zug an ihr wahr. Als hätte ihr Geist sich seine Jugendlichkeit bewahrt, während der Körper darum herum verwelkte. Hatcher, Hatcher. Der Name sagte ihm etwas, aber er kam nicht darauf, in welchem Zusammenhang.
Als der Tee fertig war, gingen sie hinüber in den Raum auf der Nordseite des Hauses. Eine durchhängende, ab gewetzte Garnitur aus Sofa und Sesseln gruppierte sich im Halbkreis vor einem Kamin, der vom Ruß ganzer Jahrhunderte schwarz gefärbt war. Ein strenger Geruch nach Asche, Salz, Holz und Staub stieg ihm in die Nase.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Miss Hatcher.
»Danke sehr.« Zach ließ sich auf einem Sessel dicht am Fenster nieder. Auf dem Fensterbrett schlief eine rote Katze, klein und dünn. Ein feiner Speichelfaden hing an ihrem Maul. Nun, da er einmal im Haus war, schien Miss Hatcher ganz beflissen, es ihm recht zu machen, und geradezu redselig. Sie saß auf der vorderen Kante ihres Sessels, die Hände auf den fest zusammengepressten Knien wie ein Kind.
»Was möchten Sie denn wissen, Mr. Gilchrist? Was hat Ihre Großmutter Ihnen über meinen Charles erzählt? Sie sagt also, sie hätte ihn gekannt, oder glaubt das zumindest – wann war das?«
»Das muss 1939 gewesen sein. Sie und mein Großvater haben hier Urlaub gemacht und sind Aubrey eines Tages auf einem Spaziergang begegnet. Er saß irgendwo draußen und malte oder zeichnete. Jedenfalls war meine Großmutter sehr angetan von ihm …«
»Neununddreißig? Neununddreißig … Da wäre ich sech zehn gewesen. Sechzehn! Ist das zu glauben?«, fragte sie lächelnd und hob den Blick zur rissigen Zimmerdecke. Zach rechnete in Gedanken rasch nach – sie war also siebenundachtzig Jahre alt. Wenn sie wie jetzt das Kinn hochreckte, konnte er die dünnen, flaumigen Härchen darauf erkennen.
»Anscheinend war das Wetter in diesem Jahr sehr enttäuschend. Mein Großvater hat immer erzählt, dass sie ja gern im Meer geschwommen wären, es ihnen aber nie warm genug dafür war …«
»Das war ein grauer Sommer. Wir hatten einen späten Kälteeinbruch, fürchterlich – bis in den März hinein blieb der Schnee liegen, und der Wind pfiff, als hätte jemand die Tür zu den Downs offen gelassen … Ein bitterkalter Frühling war das. Die Sau ist uns gestorben – sie war kränklich, aber dieser Kälteeinbruch hat ihr den Rest gegeben. Wir haben versucht, möglichst alles Fleisch zu pökeln, und haben es gerieben, bis unsere Finger so kalt waren, dass sie feuerrot wurden. Am Ende des Tages hatten wir Frostbeulen. Oh, ein solches Brennen und Stechen haben Sie noch nicht erlebt! So viel Pastinakenschale und Gänsefett wir auch auftrugen, nichts half. Danach wünschten wir uns nur noch einen heißen Sommer, sogar eine Dürre hätten wir dafür in Kauf genommen. Wir sehnten uns danach, endlich richtig trocken zu werden und es warm zu haben, aber dieser Wunsch wurde uns nicht erfüllt. O nein. Sonnige Tage waren in jenem Jahr ein seltener Segen. Und obwohl der Spätsommer dann trocken war, blieb es immer bewölkt. Die Sonne kam einem vor wie ein erbärmliches, schwaches Ding.«
»Wir? Mit wem haben Sie denn damals zusammengelebt?«
»Als ich sechzehn war? Mit meiner Mutter natürlich! Wofür halten Sie mich?«
»Verzeihung – ich wollte damit nicht andeuten … Bitte erzählen Sie weiter. Wie war Aubrey denn so?«, fragte Zach. Er war erstaunt, dass Miss Hatcher so detailliert erzählen konnte, als läge dieser Sommer erst zwei oder drei Jahre zurück und nicht eine halbe Ewigkeit.
»Wie er war? Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll, ihn zu beschreiben. Er war wie der erste warme Frühlingstag. Für mich war er das Beste, was mir je begegnet ist. Hat mir mehr bedeutet als alles auf der Welt.« Das glückliche Lächeln schwand aus ihrem Gesicht, verdrängt vom Schatten der Trauer. »Das war der dritte Sommer, den sie hier verbracht haben. Mein Charles und seine kleinen Mädchen. Kennengelernt hatte ich sie zwei Jahre zuvor, als ich selbst fast noch ein Kind war. Er hat mich immerzu gezeichnet, wissen Sie? Er hat mich so gern gezeichnet …«
»Ja, meine Großmutter hatte auch ein Bild von sich, das Aubrey gemalt hat …«
»Ein Gemälde? Er hat sie gemalt? Ein
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