Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
tiefen Schatten unter ihren Augen und die hohlen Wangen. Dieses Gesicht war fein geschnitten, herzförmig, mit weit auseinanderstehenden Augen und einem zarten, fast spitzen Kinn, das unter der erschlafften Haut kaum noch zu erkennen war. Zach empfand den Augenblick, in dem er sie erkannte, wie einen körperlichen Schock, einen Schlag.
»Ich kenne Ihr Gesicht«, platzte er unwillkürlich heraus. Die alte Frau sah ihn an, und der Hauch eines Lächelns ließ ihre Miene herzlicher wirken.
»Das sollten Sie wohl«, entgegnete sie.
»Dimity Hatcher? Mitzy? «, fragte er staunend. »Das ist ja kaum zu glauben! Sie haben zwar gesagt, dass er Sie ständig gezeichnet hat, aber ich bin nicht auf den Gedanken gekommen …« Er schüttelte den Kopf, immer noch fassungslos. Darüber, dass sie noch lebte. Dass er sie gefunden hatte, was offenbar niemandem zuvor gelungen war. Sie lächelte hocherfreut, hob das Kinn an und bemühte sich, die Schultern zu straffen. Doch dann verschwand die Sonne wieder hinter den Wolken, und sie nahm diesen Geist einer früheren Schönheit mit sich. Zurück blieb eine buckelige, farblose alte Frau, die verlegen mit ihrem langen Haar spielte und es sich wie ein junges Mädchen vor die Brust strich.
»Freut mich, dass ich nach all der Zeit noch wiederzuerkennen bin.«
»Aber ja«, sagte Zach, so überzeugend er konnte. Eine Pause entstand, während seine Gedanken sich überschlugen. »Ich habe ein Bild von Ihnen in meiner Galerie hängen! Ich betrachte es jeden Tag, und hier sitzen wir uns nun leibhaf tig gegenüber. Das ist – unglaublich!« Er konnte nicht mehr aufhören zu lächeln.
»Was für ein Bild ist das?«
»Es heißt Mitzy beim Sammeln. Sie sind von hinten gezeichnet, aber so, dass Sie ganz leicht über die Schulter schauen. Nicht ganz, aber beinahe, und Sie legen irgend etwas vor sich in einen Korb …«
»Ach ja, an das Bild erinnere ich mich.« Sie schlug hocherfreut die Hände vor der Brust zusammen. »Ja, natürlich. Das hat mir nie so recht gefallen. Ich meine, ich habe nicht verstanden, was das sollte, weil man mein Gesicht ja gar nicht richtig sieht.«
Sie hatte nichts gesammelt, sondern sortiert. Delphine hatte im Garten Kräuter ernten sollen und Dimity mit eingespannt, als sie zufällig vorbeikam. Sie sollte sich die Ernte ansehen, ehe Delphine den Korb in die Küche brachte. Dimity war auf dem Weg ins Dorf gewesen, in Valentinas Auftrag. Wie die Frau schimpfen und fluchen würde, wenn sie zu lange dafür brauchte! Also ging sie rasch den Inhalt des Korbs durch, zupfte die Löwenzahnblätter heraus, die Delphine offenbar für Liebstöckel gehalten hatte, und sortierte die Vogelmiere aus der Handvoll Kamillenzweige aus. Den ganzen Morgen schon war ihr ein hartnäckiges Lied nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt kam es als leises Murmeln über ihre Lippen, Ausdruck ihrer Ungeduld. An einem lauen Tag ging einsam ich spazieren, mein Weg führt’ mich zum Fluss hinab, am Ufer stets entlang, da hört’ ich eine schöne Maid gar kläglich lamentieren, mein Jimmy wird im Kriege fallen, ach, mir ist so bang … Plötzlich hielt sie inne und lauschte dem schwachen Echo des Liedes, das hinter ihr weitergesungen wurde. Von einer tiefen Stimme, einer Männerstimme – sei ner Stimme. Heftige Schauer fuhren wie raue Katzenzungen ihren Rücken hinab, und sie erstarrte. In der Stille hörte sie den Bleistift leise auf dem Papier kratzen. Eine trockene Lieb kosung. Sie wusste, dass sie sich jetzt nicht bewegen durfte, wenn sie ihn nicht verärgern wollte. Also sortierte sie weiter, doch sie war nicht mehr bei der Sache und übersah Grashalme im Schnittlauch, ließ Scharbockskraut als Kresse durchgehen. Und die ganze Zeit über konnte sie ihn hinter sich spüren, fühlte seinen Blick. Und als wären alle ihre Sinne plötzlich erwacht, bemerkte sie nun auch, wie heiß die Sonne ihr auf den Kopf schien, und spürte den Hauch einer Brise über das kleine Stück nackter Haut streichen, dort, wo ihre Bluse hochgerutscht sein musste. Ein Sträußchen lag in ihrem Schoß, die Wangen waren wie Rosen so rot …, sang sie weiter, und er griff das Lied hinter ihr wieder auf. Sie spürte, wie seine Antwort ihr Herz erfüllte, bis es beinah platzte.
»Welche Farbe hatte Ihr Haar? Früher, meine ich?«, fragte Zach unvermittelt. Dimity blinzelte und schien aus weiter Ferne zurückzukehren. »Entschuldigung, das muss furchtbar unhöflich klingen …«
»Charles hat immer gesagt, es sei bronzefarben«,
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