Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
richtiges Ge mälde?«, unterbrach Miss Hatcher ihn mit bekümmert gerunzelter Stirn.
»Ja, es hängt jetzt in einem Museum in London. Ein ziemlich bekanntes Bild. Es heißt Spaziergängerin – man kann meine Großmutter aus der Ferne sehen, wie sie an einem sonnigen Tag auf den Klippen entlangspaziert.« Zach verstummte und beobachtete das Gesicht der alten Frau. Sie hatte einen verzweifelten Ausdruck in den Augen, die ein wenig schimmerten, und ihre Lippen bewegten sich, als formten sie lautlose Worte.
»Er hat sie gemalt?«, flüsterte sie, und sie klang so unglücklich, dass Zach nicht antworten wollte. Eine beklemmende Pause entstand. »Aber – aus der Ferne, sagten Sie?«
»Ja – die Gestalt auf dem Bild ist nur eine Handbreit hoch.«
»Und es gibt keine Skizzen von ihr? Keine Zeichnungen ganz aus der Nähe?«
»Nein. Ich habe jedenfalls nie eine gesehen.« Miss Hatcher atmete sichtlich auf.
»Na, dann könnte sie ja einfach irgendwer gewesen sein, den er zufällig getroffen hat. Er hat sich immer sehr für die Leute interessiert, ist gern mit Fremden ins Gespräch gekommen. Vielleicht erinnere ich mich doch an Ihre Groß eltern … Ja, jetzt vielleicht doch. Hatte Ihr Großvater schwarzes Haar? Nicht nur dunkel – pechschwarz?«
»Ja! Ja, genau!« Zach lächelte erfreut.
Sie waren alle zusammen – Charles und Celeste und die beiden kleinen Mädchen, und dieses neue Paar, zwei Fremde, die sie noch nie gesehen hatte. Urlauber – ein paar waren immer da. Sie kam die Straße entlang, weil es in der Nacht geregnet hatte und die Feldwege matschig waren. Da gab es den roten, lehmigen Matsch der Halbinsel, auf der The Watch stand, und den weißen, klebrigen Matsch der Kreidefelsen im Westen. Die fremde Frau trug eine weite Hose aus einem hübschen hellbraunen Stoff und eine feine weiße Bluse, in den Hosenbund gesteckt. Und obwohl sie Arm in Arm mit dem fremden Mann dastand, war nicht zu übersehen, wie hingerissen sie von Charles war. Sie beugte sich zu ihm vor, als könnte sie sich gegen die Anziehung nicht wehren. Ihr eigener Rock war am Saum zerrissen, ihre Ärmel hatten Löcher von Dornenranken. Die salzige Brise hatte ihr Haar zu einer wirren Mähne verklebt, die ihr wie Blasentang vom Kopf hing, und sie strich sich verschämt ein paar Strähnen hinter die Ohren. Sie wollte nicht mit denen reden, mit den Fremden. Also blieb sie zurück, schlug einen Bogen und wünschte, sie könnte hören, worüber sie sprachen. Der Fremde sagte etwas, und Charles lachte, und ihr wurde ganz heiß vor Wut. Da blickte der Fremde in ihre Richtung. Das Licht fing sich in seinem Haar – nein, das stimmte nicht. Es wurde davon verschluckt. Sie hatte noch nie so schwarzes Haar gesehen. Schwärzer als Pech, schwärzer als ein Rabenflügel, ohne einen Schimmer von Grün oder Blau, wie man ihn an den Federn sah. Er begegnete ihrem Blick, wandte sich jedoch gleich wieder Aubrey und Celeste zu. Überging sie, als wäre sie Luft. Wieder diese Hitze, dieser Zorn. Doch dann entdeckte Delphine sie, winkte ihr zu und kam herüber. Sie wollte zusammen mit ihr weggehen. Deshalb konnte sie nicht herausfinden, wie lange sie zusammenblieben und sich unterhielten, ihr Charles und diese fremde Frau, die sich ihm mit jeder noch so kleinen Bewegung anbot.
»Sie meinen also, sie hätte ihr Ehegelübde gebrochen, ha?«, fragte Miss Hatcher. Zach zuckte mit den Schultern.
» Nun ja, zu diesem Zeitpunkt waren sie verlobt, aber noch nicht verheiratet. Natürlich wäre es trotzdem nicht anständig von ihr gewesen, meinen Großvater zu betrügen. Aber so etwas kommt eben vor, nicht? Das Leben ist nie nur schwarz und weiß.«
»Kommt vor, kommt vor«, wiederholte Miss Hatcher, doch Zach konnte nicht einschätzen, ob sie ihm recht gab oder nicht. Ihre Miene war traurig, und Zach bemühte sich, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.
»Vielleicht war da auch gar nichts. Gut möglich, dass sie einfach gern an diese Begegnung zurückgedacht hat und mehr nicht. Ich weiß, dass ich ihm nicht ähnlich sehe … Und er soll ja diese ungeheure Anziehungskraft besessen haben. Die habe ich ganz sicher nicht.« Er lächelte. Miss Hatcher musterte ihn mit einem raschen Blick.
»Nein, haben Sie nicht«, sagte sie. Zach fand das ein wenig niederschmetternd.
»Allerdings – male ich. Vielleicht habe ich diese künstlerische Ader doch …«
»Sind Sie ein guter Maler?« Draußen kam die Sonne hervor und beleuchtete plötzlich ihr Gesicht, auch die
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