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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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antwortete sie leise. »Er hat gesagt, wenn das Licht darauf schiene, sehe es aus wie poliertes Metall – wie eine lebendig gewordene Statue der Persephone.« Vor seinem geistigen Auge sah Zach all die Zeichnungen – die vielen, vielen Zeichnungen von Mitzy, und er stellte sich das nicht zu bändigende Haar, das Aubrey mit seinen langen, großzügigen Bleistiftstrichen eingefangen hatte, in dieser Farbe vor. Ja. Er konnte sie jetzt ganz deutlich vor sich sehen, als sei die Farbe schon immer da gewesen und hätte nur darauf gewartet, dass er sie endlich entdeckte.
    Auf einmal war ein gedämpftes Geräusch aus dem Obergeschoss zu hören. Mit einem dumpfen Schlag fiel etwas zu Boden, prallte noch einmal leiser auf, dann hörte Zach deutlich das Schlurfen und Knarren eines Schrittes. Dimity richtete den Blick an die Decke und wartete, als müsste da noch etwas kommen. Verwundert blickte auch Zach zu den rußgeschwärzten Balken hoch, als könnte er durch sie hindurchsehen.
    »Was war das?«, fragte er. Einen Moment lang sah Dimity ihn verblüfft an, dann nahm ihr Gesicht einen erschrockenen Ausdruck an.
    »Ach, nichts. Gar nichts. Nur – Mäuse«, sagte sie hastig. Ihre Finger, die aus den roten Handschuhen hervorschauten, spielten mit ihrem Haar, rollten die ausgefransten Spitzen hin und her, drehten sie zusammen. Dimity wandte den Blick ab und ließ ihn ziellos über die Wand schweifen.
    »Mäuse?«, wiederholte Zach zweifelnd. Das hatte sich nach etwas Größerem angehört. Die alte Frau dachte offenbar gründlich nach, ehe sie ihm antwortete. Im Sitzen ließ sie die Füße vor- und zurückkippen – auf die Zehen, auf die Fersen und wieder nach vorn.
    »Ja. Denken Sie sich nichts dabei. Nur Mäuse.«
    »Sind Sie sicher? Es hat sich angehört, als hätte jemand etwas fallen lassen.«
    »Ich bin sicher. Da oben ist niemand, der etwas fallen lassen könnte. Aber vielleicht sehe ich lieber mal nach. Also dann, Sie müssen sicher auch weiter? Sind Sie fertig mit Ihrem Tee?«, erwiderte sie, erhob sich steif und streckte die Hand nach der Tasse aus. Sie machte den Eindruck, als sei sie mit ganz anderen, eher sorgenvollen Gedanken beschäftigt.
    »Ach so, natürlich.« Zach hatte die Tasse zwar erst zur Hälfte geleert, er reichte sie ihr trotzdem. Der Rand war gefährlich gesprungen, und er glaubte, dass die Milch nicht mehr gut war. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Hatcher. Vielen Dank für den Tee und für die nette Unterhaltung.« Sie bugsierte ihn zur Tür, drängelte ihn mit gesenktem Blick förmlich vorwärts.
    »Ja, ja«, sagte sie abwesend. Als sie die Haustür öffnete, wehte eine warme, frische Brise die Geräusche des Meeres mit herein. Gehorsam ging Zach durch die Tür. Die steinerne Trittfläche davor war so abgewetzt, dass sich eine Mulde ge bildet hatte, in der sich Wasser sammelte. In vielen kleinen Löchern und Rissen in dem Stein wuchs Moos.
    »Dürfte ich denn noch einmal wiederkommen und Sie besuchen?«, fragte er. Sie setzte zu einem automatischen Kopfschütteln an. »Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Vielleicht könnte ich Ihnen ein paar der Bilder mitbringen, die Aubrey von Ihnen gezeichnet hat, wenn Sie möchten? Natürlich nicht die Originale, aber Abbildungen davon – in Büchern. Sie könnten mir erzählen, wie es damals war, als er Sie gezeichnet hat, was Sie an dem Tag gemacht haben, zum Beispiel.« Sie dachte offenbar darüber nach und spielte wieder mit ihrem Haar. Dann nickte sie.
    »Aber bringen Sie mir ein Herz mit?«
    »Ein … Verzeihung, wie bitte?«
    »Ein Ochsenherz, höchstens einen Tag alt – ich brauche eins. Und Nadeln. Neue Nadeln«, sagte sie.
    »Ein Rinderherz? Ein echtes, meinen Sie? Wozu, um alles in der Welt …«
    »Von einem Ochsen, und höchstens einen Tag alt – fragen Sie unbedingt genau nach.« Schon schob sie ihm ungeduldig die Tür vor der Nase zu, in Gedanken offensichtlich bereits ganz woanders.
    »Also gut, ja. Ich werde …« Die Tür fiel ins Schloss, und Zach richtete seine letzten Worte an das verwitterte Holz. »Ich werde darauf achten«, beendete er den Satz.
    Dann kehrte er der Tür den Rücken zu und blickte zum Himmel hoch – strahlende Weißtöne und Grauschattierungen. Dimity Hatcher. Dimity Hatcher lebte gesund und munter in Blacknowle – immer noch, nach all den vielen Jahren, seit Aubrey sie gezeichnet hatte. Zach konnte es kaum fassen. Unglaublich, dass sie noch hier war und niemand sonst sie je aufgesucht hatte. In

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