Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Großmutter kannte Charles Aubrey. Sie ist ihm in ihrem Sommerurlaub hier begegnet, damals, vor dem Krieg. Dem Maler, Charles Aubrey? Also … Ich habe mich schon lange gefragt, ob er möglicherweise mein echter Großvater war. Ich glaube, die beiden hatten eine Affäre. Und ich hatte die Hoffnung, dass Sie sich vielleicht noch an ihn erinnern? Oder an sie? Dass Sie mir irgendetwas über ihn erzählen könnten?« Die Frau stand vollkommen reglos vor ihm, wie zu Stein erstarrt, doch dann öffnete sie ganz langsam den Mund, und Zach hörte sie einatmen – lang und zittrig, als schnappte sie in Zeitlupe nach Luft.
»Ob ich mich an ihn erinnern kann?«, flüsterte sie, und Zach wollte schon antworten, doch da sah er, dass sie ihn gar nicht hören würde. Ihr Blick war völlig verschwommen. »Ob ich mich an ihn erinnern kann? Wir wollten heiraten, wissen Sie?«, sagte sie, dann blinzelte sie und blickte mit einem flüchtigen Lächeln zu ihm auf.
»Tatsächlich? Heiraten?«, fragte Zach und versuchte, diese Information mit seinem Wissen über Aubreys Leben in Einklang zu bringen.
»O ja. Er hat mich vergöttert – und ich ihn. Welch eine Liebe war das! Wie bei Romeo und Julia. Aber wirklich wahr. Oh, so wahr«, sagte sie eindringlich. Zach lächelte über das Leuchten in ihren Augen.
»Na, wie wunderbar. Ich freue mich sehr, jemanden kennenzulernen, der so schöne Erinnerungen an ihn hat. Wären Sie denn bereit, mir ein wenig mehr zu erzählen? Über ihn?«
»Sie haben ihm ein wenig ähnlich gesehen, als Sie den Weg herunterkamen. Jetzt eher nicht. Nein, eher nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sein Enkel sein könnten. Nein, kann ich nicht. Er hat keine andere geliebt, nur mich …«
»Ich verstehe, aber gewiss hatte er – hatte er … auch andere Frauen«, sagte Zach zögerlich und bereute es sofort, als er sah, wie ihr Gesicht zusammenfiel. »Dürfte ich vielleicht hereinkommen? Dann können Sie mir in Ruhe von ihm erzählen«, bat er hoffnungsvoll. Die Frau schien darüber nachzudenken, und ihre Wangen bekamen ein wenig Farbe.
»Andere Frauen«, brummte sie verdrießlich. »Nun, dann kommen Sie rein. Ich mache uns Tee. Aber Sie sind nicht sein Enkel. Nein, sind Sie nicht.« Sie trat zurück, um ihn einzulassen, und Zach hatte den Eindruck, dass sie von ihren eigenen Worten nicht ganz überzeugt war. Hastig versuchte er, in Gedanken eine Liste von Aubreys Geliebten aufzustellen und zu erraten, welche von ihnen diese alte Dame sein könnte.
Er trat in einen schummrigen Flur, von dem aus eine Treppe mit durchhängenden, rissigen Holzstufen nach oben führte. Zu beiden Seiten und nach hinten raus lag jeweils eine Tür, und die alte Frau führte ihn durch die rechte Tür in die Küche am südlichen Ende des Hauses. Durch die Fenster nach Süden und Westen blickte man aufs Meer hinaus. Der Boden bestand aus massiven, abgenutzten Stein platten. Die ehemals weiß getünchten Wände waren fleckig, hier und da blätterte die Farbe ab, und die niedrige Decke wirkte schwer und erdrückend mit ihren vielen krummen Balken. Statt einer Einbauküche tummelten sich diverse hölzerne Schränke, Anrichten und Kommoden in dem Raum, offensichtlich so aufgestellt, wie sie am besten Platz fanden. Der Elektroherd schien mindestens fünfzig Jahre alt zu sein, aber alles war sauber und wohlgeordnet. Zach stand unbeholfen hinter der Frau herum, während sie den Wasserkocher füllte – ein modernes Ding aus leuchtend weißem Kunststoff, völlig fehl am Platze. Trotz ihres Alters und des Buckels zwischen den Schultern waren ihre Bewegungen ruhig und sicher. Auch mit geradem Rücken wäre sie nicht sonderlich groß gewesen, und sie war auffallend mager. Sie trug einen langen Baumwollrock mit blau-grünem Paisleymuster über ledernen Arbeitsstiefeln, die eher nach Männerstiefeln aussahen, eine lange, farblos verwaschene Strickjacke und schmuddelige rote Handschuhe ohne Finger. Ihr weißes Haar schwang hinter ihrem Rücken, wenn sie den Kopf drehte, und auf einmal konnte Zach sie beinahe als junge Frau vor sich sehen – mit einer kurvenreichen Figur und anmutigen Bewegungen. Er fragte sich, welche Farbe diese lange Mähne einst wohl gehabt hatte.
»Verzeihung, mir fällt gerade erst auf, dass ich Ihren Namen nicht mitbekommen habe?«, sagte er. Sie zuckte zusammen, als hätte sie vergessen, dass er da war.
»Hatcher. Miss Hatcher«, antwortete sie mit einem selt samen Neigen des Kopfes, das an einen angedeuteten Knicks
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