Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
weshalb Dimity Hatcher quasi eine Berühmtheit war.
»Ja, warum?«, wiederholte sie und zog eine Augenbraue in die Höhe. Sie hatte dunkle Augen, passend zu ihrem Haar, und ihr schmales Gesicht war von der Sommersonne gebräunt. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, denn sie verbrachte offensichtlich viel Zeit draußen, und das zeigte sich in feinen Fältchen um ihre Augenwinkel und Lippen. Dennoch strahlte sie eine beinahe beängstigende Vitalität aus. Die Hand, die kurz die seine berührt hatte, war trocken, kräftig und gleichzeitig zierlich gewesen. Zach tippte auf Ende dreißig.
»Ich denke nicht, dass ich sie belästigt habe. Sie schien sich über meinen Besuch zu freuen. Wir haben Tee getrunken«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.
»Tee?«, fragte Hannah ungläubig.
»Tee«, wiederholte Zach. Sie musterte ihn, und er spürte, wie ein Teil ihrer Feindseligkeit der Neugier wich.
»Tja«, sagte sie schließlich. »Da können Sie sich wirklich geehrt fühlen.«
»Ach ja?«
»Ich habe fast sechs Monate gebraucht, bis sie mir mal eine Tasse Tee angeboten hat, und das war erst, nachdem … Ach, egal. Und weshalb wollten Sie sie besuchen?«
»Sie sind ihre nächste Nachbarin. Was Sie hier tun, könnte man also – als was bezeichnen? Extremes Gardinenspaltspähen?«, erwiderte Zach. Sie maß ihn noch einen Moment lang mit einem ruhigen Blick und schenkte ihm dann ein vages Lächeln.
»Miss Hatcher ist – ein Sonderfall. Und ich frage mich, ob Sie wissen, wie besonders sie ist?«
»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, gab Zach zurück.
»Also, so kommen wir nicht weiter.« Hannah seufzte. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich auf sie aufpasse. Und ich werde es nicht dulden, wenn jemand sie – behelligt. Genügt Ihnen das?« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf eine Gruppe Leute am Ende der Bar zu.
»Sie hat mich eingeladen wiederzukommen. Und mich sogar gebeten, ihr etwas mitzubringen«, rief Zach ihr nach. Hannah blickte über die Schulter zu ihm zurück, und nun wirkte ihr Stirnrunzeln eher verwundert als feindselig. Dann verdrehte sie genervt die Augen gen Himmel und ging weiter, und Zach lachte in sich hinein.
Als der große junge Mann gegangen war, blieb Dimity noch lange am Fuß der Treppe stehen und lauschte. Jetzt war von oben nichts mehr zu hören, außer den gewohnten Geräuschen des Hauses – das leise Rascheln von Mäusen im Strohdach, der Wind im Kamin und Wasser, das irgendwo mit einem melodischen Ton auf Metall tropfte. Doch da war noch ein anderes Geräusch gewesen, sie hatten es beide gehört. Es war das erste seit langer Zeit, und ihr Herz hatte einen Satz gemacht. Zögerlich und verunsichert stieg sie die Treppe hinauf. Im Spiegel hinter ihr im Flur wackelte Valentina höhnisch mit dem Zeigefinger. Dimity achtete nicht auf sie, doch als sie die oberste Stufe erreichte, pochte ihr Herz schmerzhaft heftig. Der kleine obere Flur war düster und roch muffig und feucht, denn der Regen drang an einer Stelle durch das Strohdach bis in den Deckenputz. Bräunliche, konzentrische Kreise, wie in mehreren Schichten übereinandergelegt, waren dort zu sehen. Links lag ihr Schlafzimmer. Die Tür stand offen, und durch das Fenster zum Meer fiel bläulich getöntes Licht herein. Die Tür rechts war verschlossen. Wieder blieb sie still stehen und lauschte. Sie hatte das Gefühl, von oben beobachtet zu werden, sich in den seltsamen Facettenaugen gleichgültiger Spinnen zu spiegeln. Langsam ging sie zu der geschlossenen Tür und drückte vorsichtig mit der Hand dagegen. Vor Nervosität lag ihr plötzlich ein ungebetenes Lied auf der Zunge: Ein Sträußchen lag in ihrem Schoß, die Wangen waren wie Rosen so rot …
»Bist du da?«, fragte sie, doch ihre Stimme war nur ein Krächzen, und die Worte klangen in ihren eigenen Ohren ganz falsch. Die Spinnen beobachteten sie, aber sie bekam keine Antwort, nicht der geringste Laut war zu vernehmen. Unsicher blieb sie stehen und wartete noch ein wenig ab. Das Schweigen hinter der Tür war wie ein kalter, dunkler Brunnenschacht, und die Traurigkeit, die daraus aufstieg, drohte sie zu verschlingen. Sie kämpfte dagegen an, drängte sie zurück. Erweckte ihren Glauben wieder. Die rote Katze kam hinter ihr aus dem Schlafzimmer und rieb sich an ihren Schienbeinen, und durch das laute Schnurren hindurch hörte sie Valentinas Kichern.
Valentina Hatcher – eine Frau, die behauptete, von Roma abzustammen, von Zigeunern, und die kreuz und quer
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