Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
rufen, lachen und Spottverse singen und sah ein paar weitere Wurfgeschosse an der Stelle aufschlagen, wo sie sie zuletzt gesehen haben mussten. Im Schutz der Klippe bewegte sie sich weiter weg, den Strand entlang. Dumm-di-dumm-di-dumm-di-di!, hörte sie die Kinder schreien. Oh, wie dumm ist Dimity!
Dimity kannte viele andere Wege vom Strand aus nach oben und musste nicht den Trampelpfad benutzen, an dem sie ihr auflauern könnten, falls ihnen langweilig genug war. Als sie den feineren Kiesgrund erreichte, stellte sie fest, dass sie ihre Schuhe vergessen hatte – einen auf den Felsen, den anderen in dem Tümpel, mit seiner Fracht Muschelschalen. Sie würde sie später holen müssen, das war ihr klar, und so kehrte sie zum Strand zurück, nachdem Valentina sie wegen der Schuhe angeschrien und ihr eine Ohrfeige versetzt hatte, die Dimity übertrieben hart fand. Doch sie hatte nicht daran gedacht, wie nah am Ufer sie gesessen hatte, und die steigende Flut hatte die Schuhe weggespült. Lange suchte sie die Wasseroberfläche ab in der Hoffnung, sie ir gendwo in der Nähe treiben zu sehen. Sie würden wohl nicht ersetzt werden, nahm sie an, jedenfalls eine ganze Weile nicht, obwohl ihre Mutter diese Woche von irgendwoher genug Geld für einen neuen Lippenstift und Strümpfe gehabt hatte. Sie behielt recht, und zum Glück blieb das Wetter sonnig und trocken. Aber sie trat sich einen Stechginsterdorn ein, in die linke Ferse. Er ließ sich nicht ziehen, und sie humpelte eine Woche lang, bis Valentina sie irgend wann auf einen Stuhl zwang, die Stelle mit Dampf aus dem Wasserkessel aufweichte und drückte und drückte, so laut Dimity auch schrie, bis der Dorn in einem Schwall gelben Eiters herausgeschossen kam.
Die Schule war eine Art tägliche Folter. Sie musste eine Dreiviertelstunde lang laufen, um das zugige Schulhaus im Nachbarort zu erreichen, und da saß sie dann ganz hinten und bemühte sich, gut aufzupassen, während die anderen Kinder sie anstarrten, über sie tuschelten und sie mit Zettelchen bewarfen, auf die vulgäre Bildchen und Beleidigungen gekritzelt waren. Sogar die ärmsten Kinder, selbst diejenigen, deren Väter ständig betrunken waren, ihre Mütter schlugen oder ihre Arbeit verloren hatten und den ganzen Tag in den Hecken verschliefen – wie der Vater von Danny Shaw –, selbst die schauten verächtlich auf Dimity Hatcher herab. Wenn die Lehrerin sie dabei erwischte, wie sie ihr zusetzten, tadelte sie sie dafür, und im Unterricht ermunterte sie Dimity demonstrativ. Aber Dimity sah immer diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht, verkniffen und ein wenig angewidert, so als übersteige all das bei Weitem ihre Pflicht und als könne sie die Zumutung kaum ertragen, jemanden wie Dimity unterrichten zu müssen.
Nach der Schule war Dimity stets hin- und hergerissen – einerseits wollte sie so schnell wie möglich wegkommen, aber gleichzeitig die anderen nicht im Rücken haben, den ganzen Weg bis nach Blacknowle. Denn dann wurde sie die ganze Zeit über verhöhnt, beleidigt, mit allem Möglichen beworfen und ausgelacht. Manchmal versteckte sie sich, bis die anderen Kinder alle aufgebrochen waren, und ging dann allein hinter ihnen her, wobei sie darauf achtete, immer eine Wegbiegung Abstand zu halten. Sie hatte eigentlich nicht direkt Angst vor ihnen, aber sie war das alles so leid. Fass das nicht an! Dimity hat es in der Hand gehabt! Du fängst dir ihre Flöhe! Jede Beleidigung, jedes Schimpfwort, das sie ihr ent gegenschleuderten, war wie ein kleiner Pfeil, der in ihrer Haut stecken blieb und sich nur schwer wieder heraus ziehen ließ. Sie bemühte sich immer, nichts zu empfinden, wenn sie hinter ihnen herging, und ließ niemals zu, dass die anderen sie weinen sahen. In dieser Hinsicht waren sie wie ein Rudel Jagdhunde, die bei jedem Anzeichen von Schwäche erst recht wild wurden. Sie hörte ihr Geschwätz, das der Wind ihr zutrug, lauschte ihren Spielen und Scherzen und fragte sich, wie es wohl wäre, auch dazuzugehören, nur einen einzigen Tag lang. Manchmal legte Wilf den Heimweg mit ihr zurück. Wilf Coulson, ein magerer, kümmerlicher Junge, der Sohn von Marty Coulson und dessen geplagter Ehefrau Lana, die schon acht Kinder geboren und mit vierundvierzig gehofft hatte, das ganze Thema endlich hinter sich zu haben – doch dann wurde sie schwanger mit Wilf. Ihm lief ständig die Nase, und das linke Nasenloch war verkrustet. Dimity bot ihm mehr als einmal ein Taschentuch mit Rosmarinöl an, das die Krusten
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