Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
nützten ihr Mathematik und das Wissen, wo Afrika lag? Was brachte es ihr, wenn ihr eine pferdegesichtige Frau, deren Brüste bis auf den Rocksaum hinabhingen, zeigte, wie man eine Pastete backte, wo sie das doch schon getan hatte, seit sie alt genug gewesen war, um, auf einem Schemel stehend, die Arbeitsfläche zu erreichen. Das, was Valentina sie lehrte, war wichtiger. Alle anderen Kinder gingen weiter zur Schule, bis sie mindestens vierzehn waren. So verlangte es das Gesetz, doch niemand sagte etwas, als Dimity nicht mehr zum Unterricht erschien. Sie fürchtete, der Rektor könnte an ihre Tür klopfen und verlangen, dass sie wieder zur Schule kam, doch das tat er nicht. Es war Dimity, die als Erste den Weg von der Klippe hinter dem Haus zu dem schmalen Strand hinunter fand. Genau genommen räumte sie den Pfad frei. Das geschah an einem der Tage, als sie wieder einmal mit der Aufforderung aus dem Haus geschickt worden war, sich draußen zu beschäftigen. Das bedeutete: stundenlang. Ihr Herz klopfte so wild, dass ihr die Knie zitterten, als sie sich vorsichtig über den Rand der Klippe rutschen ließ, die Finger ins strohige Gras gekrallt. Mit den Zehen tastete sie nach einer Stelle, von der sie glaubte, dass der Stein ihr Gewicht tragen konnte. Wenn sie abrutschte und den Halt verlor, würde sie auf den schroffen Felsen dort unten aufschlagen. Ihre Schuhsohlen rutschten leicht auf einer Schicht Schotter ab, doch dann fanden sie Halt. Der Stein unter ihren Füßen bewegte sich nicht. Und von hier aus konnte sie einem langen, schmalen Zickzackpfad nach unten folgen, erst nach rechts, dann nach links. Ein paar Lücken zwischen sicher erscheinenden Steinen waren riesig, und sie musste das Bein ganz ausstrecken oder gar springen, wovor ihr graute. Es machte ihr schreckliche Angst, allen festen Halt aufzugeben, jegliche Sicherheit loszulassen. Doch sie schaffte es, sie fand einen Weg nach unten. Dann baute sie stundenlang an einem besseren Pfad, errichtete Stufen aus kleinen Felsbrocken, die sie nur mit Mühe vom Fleck bewegen konnte. Sie drehte und ruckelte daran, bis die Steine nicht mehr wackelten und sie ihnen trauen konnte. Die Sonne strahlte, und es wehte eine sanfte Brise – ein prächtiger Tag im Mai. Auf halber Höhe der Steilwand hatte eine Klippenmöwe ihr Nest gebaut. Die Eltern waren auf der Jagd, draußen auf See, und in dem Nest hockte ein einziges dickes, flauschiges Küken. Es beäugte sie in einfältiger Zutraulichkeit und nickte mit seinem hässlichen Kopf. Dimity wusste, dass sie es nicht berühren durfte, obwohl sie das gern getan hätte. Doch sie schmiegte sich ganz in der Nähe dicht an den Fels, hielt still, ganz still, und sah zu, wie die Vogeleltern mit ihren wie in Tinte getunkten Flügelspitzen immer wieder angeflogen kamen, die Kröpfe voll Fischbrei für ihr Junges. Genau andersherum als bei ihr, dachte sie auf einmal. Normalerweise war sie es, die Valentina das Essen brachte.
Sie blieb lange bei dem Nest liegen, bis die Vogelmutter sich zum Schlafen darauf niederließ und die Sonne unterging. Dimity döste in Wolken goldenen Lichts vor sich hin, gut gegen die Brise geschützt. Ihre Haut war ganz klebrig und juckte leicht, weil sie mit Salz verkrustet war, und ihr Körper fühlte sich vor Erschöpfung bleischwer an. Doch sie genoss die Gesellschaft der Vögel, die sich mit schril len, pfeifenden Lauten unterhielten. Es sah hübsch aus, wie ihre nassen Schnäbel und Füße schimmerten, wenn sie vom Wasser zurückkehrten, und es gefiel ihr, dass sie nie lange fortblieben, sondern schon bald wieder nach ihrem Küken sahen, es putzten und zu einem besseren Platz in dem engen Nest stupsten.
Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Valentina nach ihr schaute. Sicher nicht mehr lange. Es war gegen zwei gewesen, jedenfalls nach dem Mittagessen, als ihre Mut ter zur Küchenuhr aufgeblickt und ihr gesagt hatte, sie solle verschwinden. Inzwischen musste es fast acht sein, so tief stand die buttergelb leuchtende Sonne. Keiner ihrer Besucher blieb je so lange – höchstens zwei Stunden. Dimity beschloss abzuwarten, während die Lider der Vogelmutter immer schwerer wurden. Doch sobald die Sonne weg war, wurde es kühl, die Felsen bohrten sich unangenehm in ihre Haut, und sie wagte es nicht, die obere Hälfte ihres neuen Pfades im Dunkeln anzugehen. Also stand sie auf, so leise sie konnte, doch die Möwenmutter kreischte trotzdem laut. Mit Händen und Füßen arbeitete sie sich nach oben. »Ich
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