Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
lösen würde, doch er schüttelte immer den Kopf und sagte, seine Mutter habe ihm verboten, irgendetwas von ihr anzunehmen.
»Warum das denn? Dein Vater kommt uns doch manchmal besuchen. Also kann deine Mutter gar nicht so viel ge gen uns haben«, sagte sie einmal darauf. Wilf zuckte mit den mageren Schultern.
»Das gefällt ihr gar nicht. Ma sagt, wir dürfen nicht mal über euch reden.«
»Das ist doch dumm. Und mit dem Taschentuch kann gar nichts passieren. Das Öl habe ich selbst gemacht, es stammt von den Büschen in unserem Garten.«
»Nenn meine Ma nicht dumm, hörst du? Ich glaube, es hat was damit zu tun, dass du keinen Vater hast«, sagte Wilf. Es war November, und alle Felder waren gepflügt und mat schig. Sie rutschten und schlitterten einen Trampelpfad ent lang, der zwei große Schleifen in der Straße abkürzte, und der graue Matsch klebte an ihren Schuhen, sodass sie breitbeinig laufen mussten – wenig anmutig. Der Himmel hatte an jenem Tag die gleiche Farbe wie der Matsch.
»Ich habe doch einen Vater, er ist nur auf See verschol len«, sagte Dimity. Das hatte Valentina ihr erzählt, nachdem Dimity so oft danach gefragt hatte, dass sie bei jedem weiteren Mal mit einer Ohrfeige rechnete. Ihre Mutter hatte auf der Stufe vor dem Haus gesessen, zum fernen Horizont gestarrt und hin und wieder die Augen gegen den Rauch ihrer Zigarette zusammengekniffen. Hörst du jetzt endlich auf damit? Er ist fort, mehr brauchst du nicht zu wissen! Auf See verschollen meinetwegen.
»War er denn Matrose?«, fragte Wilf.
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich. Oder vielleicht Fischer. Jedenfalls ist er nur verschollen, und eines Tages kommt er zurück, und dann wird er sich Maggie und Mary Crane vor nehmen und sie durchschütteln wie zwei eklige Ratten!« Den restlichen Tag lang summte sie das Lied von Bobby Shaftoe leise vor sich hin. Bobby Shaftoe fuhr zur See … Erst Jahre später begriff sie, dass »verschollen« tot bedeutete – dass dieser Mensch nie zurückkehren würde.
Eines stürmischen Tages, als der Wind das Wasser zu hohen, zornigen Wogen aufpeitschte, stand sie auf der Klippe und sah zu, wie die Wellen an die Küste krachten. Sie stellte sich all die Seeleute und Fischer vor, die seit Anbeginn der Zeit ertrunken und hinab in die Tiefe gezogen worden waren. Wie ihre Knochen zu Sand zermahlen wurden. Die Küste, an der sie lebte, war gefährlich, was zahlreiche Wracks bewiesen. Im Jahr zuvor war sie mit Wilf und seinen Brüdern mit dem Bus nach Portland gefahren, um sich die Überreste der Madeleine Tristan anzusehen. Der lecke Dreimastschoner war in der Chesil Cove auf Grund gelaufen und lag schief auf dem Strand, umringt von neugierigen Touristen und Einheimischen. Dimity, Wilf und alle anderen Kinder kletterten die lose herabhängende Takelage hinauf, um einen Blick auf das Deck zu werfen und Piraten zu spielen. Das war der beste Spielplatz, den sie je erlebt hatten, und sie fuhren immer wieder hin, bis das Wrack von Ratten mit ihren wuselnden Leibern und peitschenartigen Schwänzen erobert wurde. Nur ein Stück weiter am selben Strand lagen die riesigen, verrosteten Dampfkessel eines anderen Schiffes, der Preveza . Wracks über Wracks, ganze Schichten verlorener Schiffe, verlorener Leben.
Die Erkenntnis, dass ihr Vater niemals an die Tür ihres Häuschens klopfen würde, um sich auf ihre Seite zu stellen oder die Crane-Zwillinge durchzuschütteln wie zwei Ratten, machte Dimity sehr lange traurig. Und als Ma Coulson dahinterkam, dass ihre Jungen Dimity Hatcher zum Wrack der Madeleine Tristan mitgenommen hatten, sah sie mit verschränkten Armen zu, während Marty einen nach dem anderen mit dem Gürtel verprügelte. In ihrem Versteck zwischen den schwarzen Johannisbeeren hörte Dimity das Klatschen von Leder auf nackter Haut, hörte die Jungen wimmern und schreien. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie blutete, doch sie ging nicht weg, bis die letzte Tracht Prügel ausgestanden war.
Als Dimity zwölf war, teilte Valentina ihr mit, dass sie nicht mehr zur Schule gehen würde, weil das Zeitverschwen dung sei und sie zu Hause gebraucht würde. Zu ihrer Überraschung stellte Dimity fest, dass ihr die Schule fehlte. Sie vermisste sogar die anderen Kinder, obwohl sie die meisten von ihnen hasste. Sie vermisste es, ihre neuen Stifte und Kleider zu betrachten, ihre Geschichten zu hören, und sie vermisste den Heimweg mit Wilf. Allerdings fand sie auch, dass ihr mit dem Unterricht nicht viel entging. Was
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