Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
avantgardistisch sein wollen.
»Wozu brauchen Sie das?«, fragte er vorsichtig. Dimity riss den Kopf hoch – offensichtlich hatte sie ganz vergessen, dass er da war. Sie kaute einen Moment lang auf der Innenseite ihrer Wange herum, dann beugte sie sich zu ihm vor.
»Hält die Bösen fern«, flüsterte sie und schaute an ihm vorbei, als hätte etwas hinter seinem Rücken ihre Aufmerksamkeit erregt. Zach warf einen Blick über die Schulter. Aus dem Spiegel im Flur blickte ihm sein eigenes Gesicht entgegen.
»Die Bösen?«
»Diejenigen, die man nicht drinnen haben will.« Sie stand auf, hielt inne und schaute auf ihn herab. »Schöne lange Arme«, murmelte sie. »Kommen Sie mit, helfen Sie mir.«
Gehorsam stand Zach auf und folgte ihr ins Wohnzimmer. Nach Dimitys Anweisungen stieg er geduckt in den offenen Kamin in der Ecke und richtete sich vorsichtig darin auf. Er fand, dass dieser Tag schon sehr früh eine recht seltsame Wendung genommen hatte. Seine Schultern streif ten die rußigen Wände, und als er aufblickte, rieselten ihm feine Schmutzpartikel in die Augen. Fluchend rieb er sie mit den Fingern, um dann festzustellen, dass diese ebenfalls schwarz verschmiert waren. Ein scharfer Gestank drang ihm in die Nase, und über sich konnte er ein kleines, blendendes Quadrat Himmel sehen. Wie bin ich nur in einen Schornstein geraten?, fragte er sich und grinste belustigt in die dunkle Enge.
»Tasten Sie die Wand über Ihrem Kopf ab. Da ist ir gendwo ein Nagel. Haben Sie ihn gefunden?«, rief Dimity aus dem Wohnzimmer. Zach schaute in den offenen Kamin hinunter und konnte ihre Füße in den hässlichen Lederstiefeln sehen, die nervös hin und her schlurften. Er reckte den Arm nach oben, tastete mit den Fingern im Schornstein herum und löste dabei noch mehr Ruß, der in sein Haar krümelte. Er versuchte, ihn abzuschütteln, und tastete weiter, bis sein Zeigefinger einen spitzen Nagel berührte, der sich rostig anfühlte.
»Ich habe ihn gefunden!«
»Dann nehmen Sie das – hier, nehmen Sie es.« Ihr Arm reckte sich in den Schornstein, und sie hängte ihm das mit Nadeln gespickte Herz an einer Schlaufe des Fadens, mit dem sie es wieder zugenäht hatte, an den Zeigefinger. »Hängen Sie es an den Nagel, aber dabei müssen Sie einen Teil vom Lied singen.«
»Welches Lied?«, fragte Zach, der vorsichtig das Herz hochhob und darauf achtete, dass es nicht sein Gesicht berührte. Doch auf Kopfhöhe verjüngte sich der Rauchfang, und es streifte kühl seine Wange. Er schauderte. »Welches Lied?«, wiederholte er verunsichert.
»Segne dieses Haus, halt es heil und ganz …«, sang sie zittrig mit hoher, dünner Stimme.
»Segne dieses Haus«, echote Zach tonlos. Er hängte das Ding an den Nagel, und ein plötzlicher Luftzug von unten riss seine Worte mit sich wie Rauchschwaden. Die Luft zischelte zornig in seinen Ohren. Er duckte sich so schnell wie möglich aus dem Kamin heraus und versuchte vergeblich, mit schmutzstarrenden Händen den Ruß aus seinem Haar und seiner Kleidung zu schütteln. Als er zu Dimity aufblickte, hatte sie die Hände vor den Mund erhoben, die Finger fest miteinander verschränkt, und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Mit einem leisen, freudigen Laut schlang sie die Arme um Zach, der sich nur stumm wundern konnte.
Als sie ihn losließ und zurücktrat, wirkte sie verlegen und senkte den Blick auf ihre fleckigen Finger, die mit einem losen Faden an ihrer Schürze spielten. Es schien sie nicht zu stören, dass ihre Hände blutverschmiert waren. Als sei sie daran gewöhnt. Zach rieb sich die schmutzigen Handflächen.
»Dürfte ich mir die Hände waschen und mich ein bisschen sauber machen?«, bat er. Dimity nickte, ohne ihn anzusehen, und deutete in den Flur hinaus.
»Durch die Tür ganz hinten«, sagte sie leise. Zach ging an der Treppe vorbei und öffnete die hintere Tür, die aufgequollen und steif war. Plötzlich stellte er sich vor, das höl zerne Skelett des Hauses sei vor Feuchtigkeit aufgedun sen und im Lauf der Jahre bröckelig geworden. Probehalber bohrte er den Daumennagel in einen der dicken, krummen Balken in der Wand. Er war so hart wie Stahl.
Hinter der Tür stieß er auf einen kleinen Raum mit dem Sicherungskasten, der Hintertür des Häuschens und einer weiteren Tür zum Bad. Dessen abfallende Decke war so niedrig, dass Zach sie mit dem Kopf fast streifte. Es war merklich kälter hier, und Zach erkannte, dass das Bad ein windiger Anbau war – zweifellos flüchtig errichtet als Er
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