Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
denn hier tief genug?«
»Der ewige Bedenkenträger!« Sie schaute auf ihn herab und lächelte. Zach stand auf, und da er über einen Kopf größer war als sie, musste sie zu ihm aufblicken. Sie betrachtete ihn einen Moment lang auf diese abschätzende Art, an die er sich allmählich gewöhnte. »Komm doch danach noch mit zu mir, wenn du magst«, sagte sie und beobachtete ihn ruhig.
»Warum?«, fragte Zach. Hannah zuckte mit einer Schulter und sprang.
Dimity sah sie nebeneinander auf dem Felsendamm sitzen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sie beobachtete die beiden vom Küchenfenster aus und spürte ein Kribbeln im Magen. Das Gefühl brachte sie dazu, die Hände vor dem Bauch zu falten, um es festzuhalten, von einem Fuß auf den anderen zu treten und sich hin und wieder abzuwenden, um ein paar Schritte auf und ab zu gehen. Worüber sprachen sie? Das fragte sie sich. Der Junge hatte so viele Fragen, immerzu Fragen, und wenn sie sie beantwortete, kamen immer nur noch mehr. In dieser Hinsicht war er unersättlich. Ein Loch, in das sie all ihre Geschichten gießen könnte und das doch nie gefüllt sein würde. Gebt acht, hier geht ein Räuber um, Räuber um, Räuber um, sang sie leise und beobachtete die beiden weiter. Sie hatte begonnen, ein Amulett für Hannah zu fertigen, Nadeln durch kleine Korken zu stechen und sie allmählich, ganz vorsichtig, durch den Hals einer gläsernen Flasche zu schieben. Es würde sie schützen, wenn sie es über ihren Herd oder die Tür hängte. Für den Fall, dass tatsächlich ein Fluch auf ihr lag oder auf dem Hof – das war Dimitys erster Gedanke gewesen. Jetzt dachte sie sich: Ihren Mund wird es auch verschließen. Damit dieser neugierige Bursche ihr keine Worte entlockte, wie er es bei Dimity machte. Gebt acht, hier geht ein Räuber um, meine holde Dame. Hannah wusste Dinge, schlimme Dinge. Geheimnisse, die sie nie verraten durfte. Denn letztendlich konnte Dimity doch nicht alles allein schaffen. Manchmal musste sie um Hilfe bitten – junge Hände und Arme, in denen die Kraft steckte, die das Alter ihr geraubt hatte.
Erst hatte sie sich darüber gefreut, ihn mit Hannah am Strand entlangspazieren zu sehen. Sie schienen gut zueinanderzupassen, obwohl ihre Größe und die Farben ihrer Seelen so verschieden waren. Hannahs Seele war schon immer rot gewesen, und die des jungen Mannes war eher blau, grün und grau. Wechselhaft, als wüsste sie nicht recht, was sie sein sollte. Doch schon bald war Dimity nervös geworden, dann ängstlich. Er hat mir meinen Ring geraubt, Ring geraubt, Ring geraubt, hat meinen Ehering geraubt, meine holde Dame … Einen Moment lang wünschte sie beinahe, Valentina würde wiederkommen – jemand, der ihr zwar nicht helfen, aber ihre Gedanken hören konnte. Valentina hatte nie geholfen, niemals Mitgefühl aufbringen können. Ihr Herz war aus Holz und Stein, hart und mineralisch. Dimity dachte daran, was sie vorhin zu Zach gesagt hatte, als Worte und Gefühle plötzlich einen ungeheuren Druck in ihr erzeugt hatten. Sie dachte an das, was sie gesagt und glücklicherweise nicht gesagt hatte, obwohl ihr die Wahrheit einen Augenblick lang auf der Zunge gelegen hatte. Die Wahrheit konnte geteilt und in Hälften herausgegeben werden, oder in noch kleineren Teilen. Man konnte sagen, der Himmel ist nicht grün. Das war nicht dasselbe wie zu sagen, der Himmel sei blau. Wahr, aber nicht dasselbe.
Dimity rieb sich den Ringfinger ihrer linken Hand, ganz unten, und glaubte, eine Schwiele zu spüren, ein Stückchen harte, leicht erhabene Haut zwischen Finger und Handfläche. Sie hat mir meinen Ring geraubt, hat meinen Ehering geraubt, meine holde Dame. Dimity summte die Melodie vor sich hin, murmelte die Worte dazu und merkte nicht, dass sie nun aus dem Ringräuber eine Räuberin gemacht hatte. Sie beobachtete, wie Hannah aufstand und wieder ins Wasser tauchte und wie der junge Mann es ihr gleichtat. Er war ein Nachläufer, dieser Bursche – wusste nicht, wohin er wollte, und ließ sich deshalb gerne führen. Wenn sie gut aufpasste, würde sie ihn dorthin führen, wo sie ihn haben wollte und wo er sein Ziel vermutete. Aber sie würde sehr vorsichtig sein müssen. Gib doch acht, Mitzy. Mach es dir nicht noch schwerer. Valentinas Worte, so lange her, so verächtlich und drohend. Es war besser, gar nicht über ihn zu sprechen, so schön sich die Worte in ihrem Mund auch anfühlten: über Charles, über Liebe und Hingabe. Diese Worte wurden von anderen
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