Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
ließ sie langsam wieder ausströmen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie angespannt er gewesen war, wie besorgt wegen Dimitys Tränen. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Er musste vorsichtiger vorgehen, sensibler. Die Fragen durften nicht einfach aus ihm herausstolpern, denn es ging schließlich um ihr Leben und ihren Verlust, nicht nur um irgendeine historische Figur, der er selbst nie begegnet war. Er überlegte, ob er es riskieren konnte, sie noch einmal auf Dennis anzusprechen – wer der junge Mann war und wo sich die Sammlung befinden mochte, aus der seine Porträts stammten. Zach warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte überrascht fest, wie spät es schon war. Er war mit Hannah verabredet und schlug den direkten Weg zum Strand unterhalb ihres Hofes ein.
Hannah wartete schon am Strand, als Zach dort ankam. Sie stand mit hochgekrempelten Jeans und barfuß im flachen Wasser. Als er näher kam, drehte sie sich um, lächelte und schlang gegen den kühlen Wind die Arme um den Oberkörper.
»Eigentlich wollte ich schwimmen gehen, aber ich kann mich nicht entscheiden, ob ich wirklich Lust habe oder nicht. Zum Glück bist du jetzt da und kannst mir im Wasser Gesellschaft leisten«, sagte sie.
»Ach, ich weiß nicht. Es ist nicht gerade warm heute, oder?«
»Dann kommt einem das Wasser umso wärmer vor. Glaub mir.«
»Ich habe kein Handtuch dabei.«
»Na und?« Sie sah ihn abschätzend und erwartungsvoll an, und Zach hatte auf einmal das Gefühl, dass er auf die Probe gestellt wurde.
»Also gut. Ich war ein paar Stunden oben in The Watch. Tut mir vielleicht gut, sie mir ein bisschen von der Haut zu spülen.«
»Ach? Was ist passiert?«
»Nichts Besonderes. Ich habe nur das Gefühl, da drin so viele aufgestaute Erinnerungen zu spüren. Und die meis ten davon sind wohl nicht besonders glücklich. Sich mit Dimity zu unterhalten kann wirklich ein bisschen anstrengend sein.«
»Ja, das glaube ich gern«, stimmte Hannah zu.
Sie gingen los und spazierten ein Stück weit den Strand entlang.
»Und, wie findest du es in unserer kleinen Ecke von Dor set? Vermisst du allmählich das strahlende Bath?«, fragte Hannah und strich sich ein paar verirrte Locken aus dem Gesicht, mit denen die Brise spielte.
»Es gefällt mir gut hier. Es ist irgendwie erholsam, von Landschaft umgeben zu sein statt von Menschen.«
»Tatsächlich? Ich hätte dich eher für einen Kulturliebhaber gehalten.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und er lächelte.
»Das bin ich auch. Aber vom schillernden Kulturbetrieb bin ich schon abgerückt, sobald ich aus London weggezogen war. London kommt mir jetzt vor wie – Vergangenheit. Ich habe dort studiert und geheiratet. Ich würde nicht wieder dort leben wollen. Nicht nach allem, was seit her passiert ist. Kennst du dieses Gefühl? Nicht wieder zu einem Ort zurückkehren zu wollen, der Bedeutung für dich hat?«
»Eigentlich nicht. Alle meine bedeutungsvollen Orte sind hier.«
»Das ist wahrscheinlich etwas anderes, ja. Und du wolltest hier nie weg? Den Ort verlassen, an dem du aufgewachsen bist, und ein völlig anderes Leben ausprobieren, irgendwo anders?«
»Nein.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich weiß, das ist nicht gerade mondän, es wirkt vielleicht alles andere als abenteuerlustig. Aber manche von uns werden eben mit starken Wurzeln geboren. Und egal, wo du hingehst, du bist immer noch du. Niemand fängt je wirklich ein neues Leben an. Man nimmt das alte immer mit. Das ginge doch auch gar nicht anders, oder?«
»Trotzdem merke ich, dass ich das immer wieder versuche. Neu anzufangen.«
»Und, hat es je funktioniert? Hast du je festgestellt, dass du ein anderer geworden bist?«
»Nein, ich glaube nicht.« Er lächelte traurig. »Vielleicht bist du mit dir selbst, so wie du bist, einfach mehr im Reinen als der Rest von uns.«
»Oder ich habe mich besser damit abgefunden«, entgegnete sie, ebenfalls lächelnd.
»Trotzdem müssen deine Wurzeln wirklich sehr stark sein, wenn du nicht einmal daran gedacht hast, von hier wegzuziehen, als – als du deinen Mann verloren hast. Als du Toby verloren hast.«
Hannah schwieg eine Weile und wandte den Kopf ab, um aufs Meer hinauszuschauen.
»Toby war nicht aus Blacknowle. Er kam in mein Leben geweht, auf acht tolle Jahre – und dann wehte er wieder davon. Der Hof und das Haus, die waren mein einziger Anker, als er starb. Wenn ich damals fortgegangen wäre, hätte ich auch noch mich selbst verloren«,
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