Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Wasser zu halten. Diese Berührung verkörperte für sie alles, was sie empfand, alles, was an diesem Sommer so vollkommen war. Sicherheit, Schutz. Angenommen und eingebunden werden, und Liebe. Nach einer Weile glaubte sie, seine Hand statt ihrer eigenen zu spüren, und lächelte in der Dunkelheit, als sie endlich in den Schlaf hinüberglitt.
In der Woche darauf fuhr Charles mit dem Wagen nach London. Vorbesprechungen für eine Auftragsarbeit, erklärte Celeste Dimity, als sie nach dem Grund fragte, und Dimity hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sie gab sich Mühe, sich die Enttäuschung über seine Abreise nicht anmerken zu lassen. Ohne ihn, und ohne den Wagen, waren sie mehr in Blacknowle angebunden als zuvor, doch am Freitag fuhren sie mit Celeste mit dem Bus nach Swanage, um einkaufen zu gehen. Zunächst sah Dimity dem Ausflug alles andere als begeistert entgegen. Einkaufen, wie sie es kannte, bedeutete, Fisch und Kartoffeln fürs Abendessen zu holen, vielleicht noch einen Kuchen oder Kekse, wenn einmal ein Besucher besonders großzügig gewesen war. Es bedeutete, genau die Preise zu vergleichen, um für ein paar wenige Münzen so viel wie möglich zu bekommen, und sich dann zu Hause anzuhören, dass sie schlecht gewählt habe. Doch für Celeste und ihre Töchter bedeutete einkaufen etwas völlig anderes.
Sie schlenderten von einem Geschäft zum nächsten und probierten Schuhe und Hüte und Sonnenbrillen an. Sie kauften Eiscreme und Zuckerstangen und dann fish and chips zum Mittagessen, in Zeitungspapier gewickelt, heiß und fettig und himmlisch lecker. Élodie bekam eine neue Bluse, hellblau und mit kleinen rosa Kirschen bedruckt. Für Delphine gab es ein neues Buch und eine kecke Matrosenmütze. Celeste kaufte sich ein wunderschönes, leuchtend rotes Tuch und band es sich um den Kopf.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie lächelnd.
»Wie ein Filmstar«, sagte Élodie, deren Lippen von einer Pfefferminz-Zuckerstange grünlich verfärbt und weiß gesprenkelt waren. Dimity war mehr als zufrieden damit, ihnen bei ihren Einkäufen zuzuschauen, doch offenbar fielen Celeste auf einmal ihre leeren Hände auf, und sie wirkte betroffen, beinahe ärgerlich.
»Mitzy. Wie gedankenlos von mir. Komm, Kind. Du sollst auch etwas Neues bekommen«, sagte sie.
»O nein. Ich brauche nichts, wirklich nicht«, entgegnete Dimity. Sie hatte genau einen Shilling in der Tasche, mehr nicht. Nicht annähernd genug, um sich eine Bluse oder ein Buch oder ein Seidentuch zu kaufen.
»Ich bestehe darauf. Keines meiner Mädchen soll heute mit leeren Händen nach Hause kommen! Ich möchte dir etwas schenken. Komm, such dir etwas aus. Was würde dir gefallen?«
Anfangs fühlte sich das sehr seltsam an. Dimity hatte von ihrer eigenen Mutter noch nie etwas geschenkt bekommen. Und heute war nicht einmal ihr Geburtstag oder Weihnachten. Es war ausgesprochen merkwürdig, dass sie das Geld anderer Leute ausgeben und davon etwas nur für sich allein kaufen durfte, und sie hatte keine Ahnung, was sie wählen sollte. Élodie und Delphine machten ihr Vorschläge, hielten ihr Blusen, bestickte Taschentücher und Perlenarmbänder hin. Dimity war überfordert, und es durfte nur etwas sein, das sie vor Valentina verstecken konnte, also entschied sie sich schließlich für einen Tiegel Handcreme mit einem starken Rosenduft. Celeste nickte zustimmend und bezahlte dafür.
»Eine sehr schöne Wahl, Dimity. Und sehr erwachsen«, sagte sie. Dimity lächelte und bedankte sich mehrmals, bis sie gebeten wurde, damit aufzuhören. Sie fuhren zur Abendessenszeit mit dem Bus zurück, und Dimity beobachtete heimlich, wie die Marokkanerin mit ihren Töchtern schwatzte. Sie dachte bei sich, wie schön Celeste war, und wie freundlich und großzügig – sie hatte Dimity als eines von ihren Mädchen bezeichnet. Ihr wurde in neuer Deutlichkeit bewusst, wie anders ihr Leben aussähe, wenn sie eine Mutter gehabt hätte, die mehr wie Celeste war und weniger wie Valentina Hatcher.
Tage später, als Charles aus London zurück war, spazierte Dimity mitten durch das Dorf nach Littlecombe, mit erhobenem Kopf vorbei an den Männern, die vor ihren Biergläsern auf den Bänken vor dem Pub saßen. Sie ignorierte das Gezischel, warf ihnen mit hochgezogener Augenbraue einen verächtlichen Blick zu und ging mutig und ganz offen zur Vordertür des Hauses. Doch laute Stimmen ließen sie innehalten. Zuerst hörte sie Celestes Stimme und vermutete, dass sie gerade mit Élodie schimpfte,
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