Das verborgene Netz
und ihn auf diese Weise vermutlich vor dem Tod durch Vereinsamung gerettet. Bis auf das Fenster hatte er seine Versprechen eingelöst.
»Keine Angst.« Louise hob die Hände.
»Keine Zeit«, murmelte Ernesto und warf ihr hinter der silberfarbenen Nickelbrille einen verschreckten Blick zu.
Sie deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Darf ich?«
Kopfschütteln.
»Wo sonst?«
»Nicht da.«
Vor dem Waschbecken stand ein weiterer Stuhl. »Und da?«
»Nein.
Da
.« Er wies in Richtung Seitenwand. Drei Stühle, aufgereiht wie im Wartezimmer eines Arztes. Sie setzte sich.
»Keine Zeit«, jammerte Ernesto.
»Ich weiß«, sagte Louise.
Weil die Kollegen vom D 31 nur selten Außeneinsätze hatten, bezeichnete man sie als »Aktenwürmer«. Ein zärtlicher Scherz unter Kollegen; auf Ernesto traf dieser Begriff allerdings zu. Ein verstörter, rosafarbener, sich krümmender Aktenwurm.
Dafür wusste er alles, was auch nur entfernt mit der deutschen Wirtschaft zu tun hatte, ob sie nun in kriminelle Machenschaften verwickelt war oder nicht.
Alles.
»Das gehört nicht zu meinem Aufgabenbereich.«
»Was?«
»Diese Branche.«
»Die Solarbranche?«
Ernesto nickte. Sekundenlang wirkte seine Miene erleichtert. Als Louise sitzen blieb, verflog die Erleichterung, die Anspannung kehrte zurück. »Gehört leider nicht zu meinem Aufgabenbereich«, wiederholte er.
»Schon verstanden.« Sie schlug die Beine übereinander. »Aber du weißt bestimmt, wo du nachschauen musst.«
»Ich bin da leider nicht kompetent.«
Sie lächelte.
»Um nicht zu sagen: absolut uninformiert.«
»Ernie, ich will bloß ein paar Zahlen, keine physikalischen Erklärungen.«
»Diese Branche gehört Peter.«
»Der mag mich nicht.«
Ernesto starrte sie an. Solidaritätsbekundungen für Peter Schöne, den Leiter des Dezernates, lagen in der Luft. Aber dann sagte er: »Ulf. Ein Experte in Bezug auf Energie.«
Sie wehrte ab. Der mochte sie auch nicht.
»Annemarie.«
»Wo ich doch schon mal hier bin, Ernie.«
»Aber ich kenne mich da überhaupt nicht aus.«
»Ist wie beim Zahnarzt. Je früher er anfängt, desto früher ist er fertig.«
Ernesto runzelte die schweißfeuchte Stirn, fuhr sich mit einer Hand hektisch über den Wuschelkopf. Dann krümmte er sich zusammen und verschwand hinter seinem Bildschirm. Fast lautlos flogen seine Finger über die Tastatur, der Drucker begann Seiten auszuspucken. Ihr Blick fiel auf die lilafarbenen Pantoffeln unter der Beinauslassung des Schreibtischs. Sie standen schräg, die großen Zehen rieben sich aneinander.
Der Drucker an der Wand gegenüber surrte und surrte.
Schließlich sagte sie: »Das sollte reichen.«
Ernestos Kopf schoss über den Rand des Monitors.
Sie stand auf, nahm die Seiten aus dem Ausgabefach. »Danke.«
»Hm.«
»Falls ich noch was brauche, komme ich wieder.«
»Keine Zeit«, murmelte Ernesto deprimiert und floh hinter seinen Bildschirm.
Sie ging ins Erdgeschoss, zog am Automaten vor der Cafeteria eine Dose Mineralwasser und eine Tüte Crackers, kehrte in den dritten Stock zurück. Die alltäglichen Gänge, wie sehr hatte sie sie vermisst.
Und doch fühlte sie sich merkwürdig bedrückt. Sie nahm die Kollegen, die ihr begegneten, kaum wahr, dachte stattdessen an die, die ihr nicht mehr begegnen würden. Illi mit den blauen Notizblättern, Alfons Hoffmann mit den Schokocroissants, natürlich der sanfte, strenge Almenbroich.
Wenn wenigstens Rolf Bermann zurück wäre …
Sehnsucht nach Bermann, das war nun wirklich mal was Neues.
Im Paradies waren dunkle Wolken aufgezogen: Die aktuellen Zahlen von GoSolar sahen miserabel aus.
Louise hatte sich auf das Sims des zweiten Fensters gesetzt, aß mit der einen Hand Crackers, blätterte sich mit der anderen durch die Ausdrucke von Ernesto. Die ersten Anflüge von Ermüdung hatte sie erfolgreich überstanden, weitere drohten. Prozentziffern, Bilanzen, Wirtschaft, nicht gerade ihre größte Leidenschaft.
Umsatz und Gewinn von GoSolar waren im dritten Quartal um über zwanzig Prozent zurückgegangen. Und das nach Prognosen aus dem ersten Quartal, die ein Wachstum von mindestens zwanzig Prozent zum Jahresende vorhergesagt hatten. Was zu den Einschätzungen von Wirtschaftsjournalisten gepasst hatte – noch im Frühsommer hatte GoSolar als Aushängeschild der deutschen Solarindustrie gegolten.
»Klug, weil zurückhaltend« habe man die Erweiterung der Produktionskapazität betrieben. Ein Hidden Champion mit hervorragenden
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