Das verborgene Netz
Perspektiven und innovativen Produkten. Der neueste Coup: Das Projekt »DriveSolar«, spezielle Solarzellen für Autodächer und -karosserien.
Doch im Juni hatte GoSolar einen größeren Auftrag eines spanischen Kunden verloren. Außerdem waren in diesem Jahr zwei, drei kleinere Zwischenhändler abgesprungen, und mehrere Landes- und Bundesbehörden hatten Aufträge auf Eis gelegt. Wenn man den Experten glauben konnte, waren negative Gerüchte die Ursache gewesen, die seit April durch die Öffentlichkeit geisterten – Insiderhandel, finanzielle Engpässe, Qualitätseinbrüche. Die Folge: Der Aktienkurs war kontinuierlich gesunken und lag zum gegenwärtigen Zeitpunkt fünfunddreißig Prozent unter dem vom April.
Gähnend hob Louise den Blick. Im Westen, über den Vogesen, lag ein breites Band Hellblau, über Freiburg färbte sich die bleierne Tristesse allmählich ein. Im Inneren der Wolkendecke schien ein Kern aus Licht zu wachsen, als wollte er in Kürze explodieren.
Sie legte die Ausdrucke zur Seite.
Eine Zeugin mit Geheimnissen, ein rätselhafter Angriff in Berlin, Gerüchte um GoSolar. Vielleicht gab es Zusammenhänge, vielleicht nicht. Wie auch immer, der nächste Schritt wäre gewesen, sich bei GoSolar umzusehen, und sei es nur, um den Druck auf Esther Graf zu erhöhen. Doch bevor Graeve nicht mit Stuttgart gesprochen hatte, kam das nicht in Frage.
Sie schmunzelte. Selbst bei ihr wirkte die unaufgeregte Autorität Reinhard Graeves.
Wenig später traf die Antwort von Wilhelm Brenner von der KTU ein, umfassend und akribisch wie immer, im Anhang fünf Fotos.
Die Eindruckspuren im Holz der Täfelung von Zimmer 35 wiesen, Brenner zufolge, auf eine Walther P 5 , Kaliber 9 mm, hin. Die Konturen von deren Griffstückunterseite seien individuell und entsprächen, soweit sich das anhand der Aufnahme sagen lasse, der Spur.
Brenner hatte sich in der Waffenkammer der LPD ein Exemplar der Walther P 5 besorgt, die Unterseite in eine Knetmasse gedrückt und den Abdruck fotografiert. Sie verglich das Bild mit Rohwes Nahaufnahme. Brenner hatte recht, die Eindrücke stimmten überein. Sie wussten nun also, welches Pistolenmodell der Unbekannte aus Zimmer 35 hatte – und dass er mit der Griffstückunterseite gegen die Holzwand geschlagen hatte.
Er hatte die 35 gebucht, er hatte Graf geweckt oder gewarnt. Er
kannte s
ie. Woher? Und welches Interesse hatte er an ihr?
Esther Graf hatte ihr ohne Notwendigkeit von den Schlägen gegen die Zwischenwand erzählt. Sinnvoller wäre es gewesen, alles zu verschweigen, was auf eine Verbindung zu ihrem mysteriösen Schutzengel hinwies, der immerhin der versuchten Tötung und der Dokumentenfälschung verdächtig war. Vorausgesetzt, es
gab
eine Verbindung.
War es denkbar, dass er sie kannte und sie ihn nicht?
Seufzend stand Louise auf. Im Spiegel über dem Waschbecken ein blasses Gesicht mit glänzenden Wangen und Rändern unter den Augen. Erst zwei Tage wieder im Dienst, zurück im vertrauten Umfeld, das ihrem Leben Sinn gab – anzusehen war es ihr nicht. Chaos vor Wertheim,
währenddessen, danach. Seit Jahren lief der Akku, wenn sie ehrlich war, auf Reserve. Ramponierte sie sich Körper und Seele.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und überlegte, wann sie sich zum letzten Mal über einen längeren Zeitraum frisch und erholt gefühlt hatte. Die Antwort war ernüchternd – vor zweieinhalb Jahren, zwischen April und Juli 2003 , als sie im Kanzan-an in den elsässischen Wäldern gelebt und sich vom Alkohol entwöhnt hatte. Wohltuend stille, einsame Monate. Ein japanischer Zen-Mönch, eine graue Katze, eine starrsinnige Kommissarin und viele stumme, freundliche Bäume, die jeglichen Gefühlsausbruch mit Geduld und Sanftmut ertragen hatten.
Sie trocknete sich das Gesicht ab und kehrte zu den Fotos, Brenners Mail und den Rätseln zurück.
Noch einmal von vorn.
Ein zwielichtiger Journalist, der für Esther Graf möglicherweise eine Gefahr dargestellt hatte. Ein unbekannter, ausgesprochen brutaler Schutzengel, der sie gewarnt hatte. Der Verfassungsschutz, der die Ermittlungen der Kripo unterband. Wie mochte das zusammengehen? Eine mögliche Antwort: Der Schutzengel war ein verdeckter Ermittler der Stuttgarter. Sie verwarf den Gedanken. Ein Undercovermann, der sich so in seiner Scheinidentität verirrt hatte, dass er die Grenzen nicht mehr sah und sich der versuchten Tötung schuldig machte?
Und wenn er die Seiten gewechselt hatte und das Amt nun versuchte, ihn wieder
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