Das verborgene Netz
Graf Besuch erwartete, oder weil nie Besuch kam?
Sie öffnete die geschlossene Tür. Das Schlafzimmer. Graf saß in einem Sessel vor dem Fenster. Auch hier hatte sie die Vorhänge zugezogen.
»Esther.« Louise berührte ihre Schulter. »Reden Sie mit mir, bitte.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Graf.
»Wer hat Sie in Berlin angerufen? Mit wem haben Sie sich getroffen?« Sie kniete sich neben die Armlehne, legte eine Hand auf Grafs Arm. »Mit Leuten vom Verfassungsschutz?«
»Ich kann wirklich nicht … «
»Hat es mit Ihrer Firma zu tun? Mit GoSolar?«
»Gehen Sie doch endlich.
Bitte
.« Graf hatte die Augen geschlossen und rang mit den Tränen.
Louise wartete noch einen Moment, dann erhob sie sich. Sanft strich sie Esther Graf über die Schulter. »Passen Sie auf sich auf. Und fahren Sie nach Oberberg. Ist nicht so schlimm dort. Ich war da auch mal ein paar Wochen.«
Als Graf nicht reagierte, ging sie.
Kilian und Marc nicht zu sehen, genauso wenig das »Liebespaar« – der Wagen war leer. Vier Fahnder, die ein Haus observierten, Graf sollte ausreichend geschützt sein, falls sie Schutz benötigte.
Louise fuhr nicht zur B 31 hinunter, sondern über Waldsee und am Sternwald entlang. Als sie vor der Bahnschranke stand, rief Reinhard Graeve an.
Er hatte inzwischen mit Stuttgart telefoniert. Das Amt war in heller Aufregung – die Kripo Freiburg, namentlich Louise Bonì, gefährde langwierige Ermittlungen in einem hochkomplexen Fall und beschwöre eine Katastrophe herauf. Um Himmels willen, ziehen Sie Ihre Leute ab, bevor die alles verpfuschen. Wenn die nicht schon alles verpfuscht haben.
»Wir halten uns raus, Louise.«
Sie unterdrückte einen Fluch. »Und warum wollen die nicht kooperieren?«
Graeve erwiderte, das wisse er nicht. Er wisse so gut wie gar nichts. Der Kollege des LfV habe es nicht für nötig befunden, ihn in den hochkomplexen Fall einzuweihen.
»Und Steinhoff? Der Tatverdächtige?«
»Die kümmern sich um sie.«
»Bleiben sie auf unserer Fahndungsliste?«
Graeve zögerte. »Offiziell nicht, inoffiziell schon. Aber es darf unter keinen Umständen zugegriffen werden. Sind Sie noch bei Esther Graf?«
»Woher … « Sie brach ab.
»Die Stuttgarter«, erklärte Graeve.
Immerhin, dachte Louise, sie schalteten schnell.
Sie erzählte von dem Gespräch. Graeve teilte ihre Ansicht – Esther Graf verschwieg etwas. Doch falls sie sich in Berlin mit dem Verfassungsschutz getroffen habe, sagte er, müssten sie sich wohl keine Sorgen machen. Dann sei sie vermutlich auf der Seite der Guten.
Louise fragte sich, ob er dasselbe dachte wie sie: nur nicht die beiden Fahnder in Littenweiler erwähnen. Wer nicht erwähnt wurde, konnte vergessen werden. Wer vergessen wurde, konnte bleiben, wo er war. Konnte ein bisschen aufpassen, für alle Fälle.
»Ich sehe Sie morgen«, sagte Graeve.
»Ja«, erwiderte sie erleichtert.
Zu Hause glomm ein kleines rotes Licht und erfüllte das dunkle Wohnzimmer mit Freundlichkeit und Wärme. Dann kam eine vertraute, wenn auch ferne Stimme dazu, und in die Wohnung kehrte das Leben zurück. Ben hatte sein Handy in den Bergen über Sarajewo verloren, vor zwei Tagen schon, und weil er sich keine Zahlen merken konnte, wusste er keine ihrer Telefonnummern auswendig, und weil er von früh bis spät unterwegs und weil dies nun einmal Bosnien war, hatte es eine Weile gedauert, bis er ihre Nummer herausbekommen hatte, und nun war sie nicht zu Hause.
»Ich vermisse dich«, sagte die vertraute, ferne Stimme.
Dann komm heim, dachte sie.
Heim
, wie das klang. Ein Zuhause in diesem Sinne gab es nicht. Die eine lebte in der Wiehre, der andere im Stühlinger. Und Freiburg war ganz sicher nicht Bens Zuhause, er wollte ja schon wieder weg.
»Ruf an, wenn du Zeit hast«, sagte die vertraute, ferne Stimme und hinterließ die Telefonnummer eines Hotels.
Nun, Zeit hatte sie genug, Sehnsucht ohnehin, nur Lust ganz plötzlich nicht. Das Problem war immer dasselbe, auch wenn man längst nicht mehr jung und unerfahren war, auch wenn man aufpasste: Kaum liebte man, verlor man sich in Kollateralschäden. Die eigene Wohnung kam einem leer vor, wenn der andere nicht da war. Man schlief schlechter, wenn man allein schlief, man aß ohne Freude, wenn man allein am Tisch saß, man wusste mit der freien Zeit nichts anzufangen, wenn man sie nicht teilen konnte. Man gab die Unabhängigkeit, die Autonomie dran, nur um ein bisschen lieben zu können und geliebt zu werden. Man wurde
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