Das verborgene Netz
sie.
Gegen sechs kapitulierte sie vor der Müdigkeit und der Frustration. Dies war nicht ihr Tag. Rolf Bermann hätte ihn wahrscheinlich retten können, Ben sicher, doch der eine war noch immer nicht zurück, der andere hatte sich noch immer nicht gemeldet.
»Schon gut«, sagte Graeve. »Viel können wir sowieso nicht tun.«
Sie gähnte ins Telefon. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Sie druckte die Fotos von Hotelwand und Pistolengriff sowie das Fahndungsfoto von Steinhoff aus, sammelte zusammen, was sie an Schriftlichem zu dem Fall hatte. Material für die Nacht, falls sie die Angst vor dem Wertheim-Traum wach hielt.
Als sie durch die Glastür ins Treppenhaus trat, hörte sie in der Ferne hallende Stimmen, erkannte die von Rolf Bermann und Marianne Andrele, der Staatsanwältin. Sie schienen mit großer Entourage unterwegs zu sein, andere Stimmen erklangen, dazu ein Durcheinander von Schritten. Bermann lachte, der Ausflug war offenbar erfolgreich gewesen.
Louise hielt inne, dachte darüber nach, Hallo zu sagen, dann ging sie weiter. Die Tätervernehmungen standen an, da hätte sie nur gestört.
Die Stimmen und die Schritte entfernten sich, die Ruhe des frühen Abends kehrte zurück.
Auf dem Weg über den Hof hatte sie unvermittelt das Chaos in ihrer Wohnung vor Augen, die leeren Zimmer, den leeren Kühlschrank. Den Anrufbeantworter-ohne-Nachricht.
Sie stieg ins Auto. Ein paar Fragen an Esther Graf waren unbeantwortet geblieben, weitere hinzugekommen. Weder
die einen noch die anderen ließen sich verdrängen, obwohl sie sich ein paar Sekunden lang redlich Mühe gab.
Sie sah auf die Uhr.
Halb sieben, da war die Pizza vielleicht noch warm.
6
DIE STRASSE IN DEN WALD , die Stufen, oben das hell erleuchtete Haus. Kilian und Marc waren nicht zu sehen, dafür andere Bekannte vom Vortag: das Pärchen im Auto zwanzig Meter weiter. Louise spielte mit dem Gedanken, auf einen kurzen Plausch unter Kollegen hinüberzugehen. Doch wer wusste schon, welchen Staatssekretären in Stuttgart dann das Abendessen im Hals steckenbleiben würde.
Sie dachte an Steinhoff und den Unbekannten, fragte sich, ob sie in der Nähe waren. Mechanisch tastete sie nach dem Waffenholster, als ihr einfiel, dass sie es am Nachmittag in die Schreibtischschublade zurückgelegt hatte.
Sie stieg aus, ging die Stufen hoch, klingelte.
»Sie?«, sagte Esther Graf und lehnte den Kopf an den Türrahmen.
Im Flur dieselbe Unordnung wie am Abend zuvor, die Türen zu Küche und Wohnzimmer geöffnet, alle Lampen eingeschaltet. Wieder nahm Louise den Geruch von Backofenhitze und angebranntem Teig wahr.
Schweigend hängte sie den Anorak an denselben Haken über denselben blauen Mantel.
Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer das rote Plastikset, ein Teller mit zwei Vierteln Tiefkühlpizza und Randresten, ein Glas Rotwein, eine zerknüllte Stoffserviette. Die
Vorhänge zugezogen, der Fernseher lief. Was für ein Leben, dachte sie, im Kerker irgendwelcher Gefühle.
Esther Graf deutete auf den Sessel, setzte sich aufs Sofa. Nachdem sie den Fernseher stumm geschaltet hatte, nickte sie in Richtung Pizza. »Haben Sie Hunger?« Ihre Bewegungen wirkten müde, ihre Stimme klang monoton. Unterhalb der Augen schimmerten schwarze Schatten durch eine Abdeckcreme hindurch. Sie sah aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.
»Ich hab immer Hunger.«
»Aber sie ist nicht mehr warm. Wenn es Sie nicht stört … «
Louise winkte lächelnd ab, nahm ein Viertel. Salami und Pilze, nicht ihr Lieblingsbelag, aber in der Not fraß der Teufel Fliegen.
Sie biss hinein.
»Es geht also weiter.«
»Wie gesagt, ich würde es Ihnen gern ersparen, aber ich kann nicht.«
Esther Graf bedeutete ihr mit der Hand fortzufahren.
»Was haben Sie am Samstagabend gemacht?«
»Nichts. Ich meine, nichts Besonderes.«
»Haben Sie das Hotel verlassen?«
»Ich … war essen.«
»Allein?«
Graf nickte.
»Wo?«
»Sie meinen, in welchem Restaurant?«
»Ja.«
»Aber warum wollen Sie das alles wissen? Warum behandeln Sie mich wie … «
»Wie?«
»Wie eine Verdächtige.«
»Tue ich das?«
»Es kommt mir so vor.«
Louise überlegte, ob sie von ihrem Verdacht erzählen sollte – dass Hans Peter Steinhoff und der Unbekannte möglicherweise nach Freiburg gekommen waren, der eine, um zu tun, was ihm in Berlin nicht gelungen war, der andere, um es zu verhindern. Dass alles, was in Berlin geschehen war und andernorts geschehen würde, mit ihr, Esther Graf, zu tun hatte. Dass sie
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