Das verborgene Netz
drangen Stimmen. Jemand fluchte. Jemand lachte. Für einen Augenblick sah sie Esthers erschöpftes Gesicht vor sich, als sie ihr am Montagabend zum ersten Mal die Tür geöffnet hatte.
Auf dem Schuhabstreifer lagen in Plastiküberzügen riesige blaue Adiletten – selbst für seine eins neunzig hatte Lubowitz übergroße Füße.
»Nein, tut mir leid.«
»Unten an der Kreuzung ist eine Bäckerei.«
Sie schmunzelte müde. Die Techniker waren Gefangene einer bizarren Welt der Nanospuren und entsprechend verschroben, doch ohne sie ging nichts. Also durften sie an Tatorten ein bisschen General spielen und die Ermittler aus der realen Welt herumscheuchen. »Nicht jetzt, Lubowitz, ich hab keine Zeit. Kann ich rein?«
»Noch nicht.«
Sie nickte dankbar. Der Anblick des Bades blieb ihr erspart.
»In einer Stunde sind wir fertig, dann kannst du machen, was du willst.«
Der Rauch seiner Zigarette stieg ihr in die Nase. Und da war ein weiterer Geruch, der aus dem Haus stammen musste – Blut. Ihr Blick fiel auf Lubowitz’ Hosenbeine, auf denen rote Verschmierungen zu sehen waren.
»Wenn die wüssten, was für eine Sauerei das gibt, würden sie Tabletten nehmen«, knurrte er. »Das Blut schießt einen Meter hoch, die ganzen Scheißkacheln sind voll.« Er schüttelte den Kopf, warf die Zigarette von sich. »Hier passt das Wort mal: Blutbad. Schon drüber nachgedacht?«
»Nein.«
»Heilsamer Anblick für Suizidkandidaten.«
»Glaube ich gern. Habt ihr Schuhabdruckspuren?«
»Im Bad und auf dem Weg ins Schlafzimmer.«
»Verschiedene?«
»Ein Profil, das immer wieder auftaucht, und ein Haufen Abdrücke ohne.«
»Schuhschutzfolie?«
Lubowitz bejahte knapp. Louise war nicht überrascht. Beim ersten Mal – nachdem Esther sich die Pulsader aufgeschnitten hatte – war der Unbekannte überstürzt ins Haus eingedrungen. Beim zweiten Mal – als Marc sich ihm in den Weg gestellt hatte – war die Aktion vorbereitet gewesen.
»Ich hab dir Fotos von den Abdruckspuren aus Berlin gemailt.«
»Werden verglichen«, sagte er.
»Danke. Habt ihr sonst noch was?«
»Was sollte das sein? Die haben aufgepasst.«
Sie wartete – Lubowitz ließ die Kollegen aus der realen Welt gern warten. In seinem geschlossenen Mund entstand Bewegung. Die Zunge fuhr über die Schneidezähne, beulte die Wange aus, arbeitete an den Backenzähnen. Gedämpfte Schmatzgeräusche waren zu hören.
Schließlich zuckte er die Achseln.
Steckdosen, die vor Kurzem abmontiert worden waren und in denen möglicherweise Wanzen eingebaut gewesen waren, Abriebspuren am Schloss einer Schreibtischschublade, in dem vielleicht eine Minikamera untergebracht gewesen war – falls sie recht hatte mit ihrer Vermutung. Einer seiner Männer überprüfte, ob sich irgendwo im Haus noch sendefähige Geräte befanden, aber das würde bis morgen dauern. Louise nahm nicht an, dass er fündig werden würde. Die drei Männer hatten fast eine halbe Stunde Zeit gehabt, um alle Wanzen und Kameras zu entfernen.
»Wie weit senden die Dinger?«
Lubowitz schüttelte sich eine Zigarette aus der Schachtel in den Mund und entzündete sie. »Wanzen funktionieren wie Handys. Du kannst dich zu Hause hinsetzen und kriegst alles mit. Bei Funkkameras geht das nicht, es sei denn, du hast eine Richtantenne oder einen Funk-Repeater, dann kommst du auch auf zwei, drei Kilometer, je nach Dicke der Mauern. Aber ich glaube nicht, dass die hier Richtantennen und Funk-Repeater hatten.«
»Sondern?«
»Na, Stabantennen, Bonì.«
»Heißt?«
»Im Freien rund einhundert Meter. Wenn du Wände zwischen Sender und Empfänger hast, entsprechend weniger.«
Lubowitz schwieg, Louise wartete. Er schien in Gedanken
weit weg zu sein – oder wieder im Haus, bei Abriebspuren an einem Schloss, einer Faser auf dem braunen Sofa, einem Haar auf einem Teppich. Keinen Kollegen konnte sie weniger einschätzen als ihn.
»Was genau bedeutet ›entsprechend weniger‹?«
Lubowitz’ Stirn runzelte sich. »Zehn bis fünfzig Meter? Keine Ahnung, woher soll ich wissen, was die für Geräte haben?«
Sie ließ den Blick am Zaun entlangwandern. In unmittelbarer Nähe lag nur eine Handvoll Häuser, doch würde sie eine Durchsuchung nicht genehmigt bekommen, solange nicht bewiesen war, dass eine illegale Telekommunikationsüberwachung stattgefunden hatte.
»Ich geh wieder rein, Bonì.« Lubowitz hatte sich umgedreht und schlüpfte in die umhüllten Adiletten. »Das nächste Mal denkst du an Kaffee, ja?«
Die Haustür
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