Das verborgene Netz
zurückgeworfen wurde, so dass die schmale Straße von einem hektischen, stummen Rhythmus erfüllt war. Eines der Gesichter in der Menge kam ihr bekannt vor, doch dann schoben sich andere davor, und die vage Erinnerung verblasste. Sie trat einen Schritt zur Seite, das Gesicht war verschwunden. Aus den Nebeltälern ihres Bewusstseins stieg das Wort »spießig«, und da wusste sie, wer der Mann gewesen war: Michael Bredik, einer von Zillers Verfassungsschutzadjutanten, denen sie am Morgen in Graeves Büro gegenübergesessen hatte.
Sie wandte sich Kilian zu. »Sag ihnen, ein Blaulicht reicht, das ist ja nicht auszuhalten.«
Der Rhythmus wurde ruhiger.
Die Streifenbesatzungen hatten drei Bewohner, die das Haus betreten oder verlassen hatten, überprüft, außerdem den Hausmeister ausfindig gemacht, der aus der Marienstraße herübergeeilt war. Louise wies sie in die Lage ein: Vermutlich war die Wohnung leer, aber man musste mit allem rechnen.
»Kein MEK ?«, fragte ein Polizeikommissar mit rotem Haar und rotem Schnauzbart.
»Keine Zeit.«
Sie ließ sich den Hausmeister zeigen, erkannte ihn erst auf den zweiten Blick: Ronescu, der sanfte Rumäne aus ihrem Haus in der Gartenstraße, in dessen Küche sie zahllose Flaschen Tuica geleert hatte. Die Tränensäcke bedeckten mittlerweile die Hälfte des schwermütigen Gesichts, die Fleischwülste waren noch größer geworden, er ging gebückter als damals. Dutzende Äderchen auf seiner Nase ließen vermuten, dass er im Gegensatz zu ihr nicht vom Tuica gelassen hatte.
Dann nahm sie den Geruch von Alkohol wahr.
»Frau Louise«, murmelte er erstaunt und hob eine Hand zum Gruß.
Der Klang seiner Stimme, das rollende »R«, die dunklen Vokale jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Ronescu gehörte in die Zeit
davor
– vor der Entgiftung und dem Entzug, vor der Rückkehr ins Leben, vor Ben. Die Zeit, als sich ihre Gedanken nur darum gedreht hatten, wo sie unbeobachtet trinken, wo sie die Flaschen verstecken konnte, wie lange der Vorrat reichen würde.
Sie ergriff Ronescus Hand. »Geht es Ihnen gut?«
»Ach, wissen Sie … « Er zuckte die Achseln. »Aber Sie sehen besser aus als damals. Müde, aber … gesund.«
Sie lächelte erschrocken. Ja, gesund in diesem Sinne,
in einem anderen wohl nicht. »Ich muss ins Haus, in die Wohnung von Philipp Schulz.«
»Und das ist … das dürfen Sie?«
»Ja.« Auf der Fahrt hatte sie Marianne Andrele angerufen, die Staatsanwältin. Die Durchsuchung war mündlich angeordnet worden, der Beschluss in Arbeit.
Ronescu hob einen Schlüsselbund. »Dann gehen wir.«
»Nein, Sie nicht.«
Er zeigte ihr zwei Schlüssel, reichte ihr den Bund.
» Wie ist die Wohnung geschnitten?«
Ronescu hob die Hände vor den Bauch, hielt sie parallel zueinander. »Sie kommen in den Flur.« Er klappte die rechte Hand zur Seite. »Hier ist das Bad, geradeaus die Küche, hier das Zimmer … « Er klappte die linke Hand zur Seite.
Mit Kilian, dem rothaarigen Polizeikommissar und drei von dessen Streifenkollegen besprach sie die Vorgehensweise, dann betraten sie das Haus, stiegen, die Waffe in der Hand, ins Dachgeschoss hinauf, wo zwei Wohnungen lagen, eine nach hinten, eine zur Herrenstraße. Am Klingelschild der Letzteren stand »Schulz«, auf dem Schuhabstreifer »Willkommen«.
Die Kollegen verteilten sich entlang der Treppe, nur Kilian blieb dicht neben ihr. Er wirkte konzentriert und ruhig, im Gegensatz zu ihr. Sie hasste Situationen wie diese. Eine geschlossene Tür, und keiner wusste, was dahinter wartete.
Sie läutete zweimal, sagte: »Kriminalpolizei, bitte öffnen Sie.«
Als nichts geschah, schloss sie auf und trat mit gehobener Waffe in die kleine Diele, die nur vom Licht aus dem Treppenhaus beleuchtet wurde. Sie spürte Kilian dicht hinter sich, hörte seine langsamen Atemzüge. Schrittgeräusche
übertönten sie, Türen flogen auf, Kilian im Bad, die Streifenbesatzungen im Zimmer, sie selbst in der Küche.
Kilian gab als Erster Entwarnung, dann sie, als Letzter der Rothaarige.
Sie sank auf einen Stuhl, der an einem winzigen Tischchen stand. Ihre Beine zitterten, ihr Atem ging zu schnell. Sie ließ den Blick über die kaum zehn Quadratmeter große Küche gleiten. Keine Schränke, kein Regal, kein Kühlschrank, kein Herd. Neben der Spüle standen ein benutzter Pappteller mit Brotkrümeln und ein Plastikbecher, daneben lag eine Papiertüte aus einer Bäckerei. Philipp Schulz mochte hier gewohnt haben, niedergelassen hatte er sich
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