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Das verborgene Netz

Das verborgene Netz

Titel: Das verborgene Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Niemand für Esther.
    Louise wartete, bis sich die Stationsschleuse öffnete und eine Krankenschwester heraustrat. Dann ging sie hinein.
     
    In einem kleinen Vorraum reinigte sie sich die Hände an einem Desinfektionsspender. Durch eine Tür gelangte sie
in einen halbdunklen, offenen Raum mit sechs Betten, in denen Patienten schliefen. Tasten und Monitore von Geräten zur Überwachung der Vitalparameter leuchteten, leise Alarmtöne piepsten im immergleichen Rhythmus. Von der Decke drang das leise Rauschen der Luftfilteranlage herunter.
    Schmale, von transparenten Kunststoffvorhängen abgetrennte Bereiche schlossen sich auf beiden Seiten an. Die ersten vier waren leer, im dritten links fand sie Esther.
    Sie schien zu schlafen. Die Haare verklebt auf dem Kissen, die Wangen bleiche Täler, unter den geschlossenen Augen Schatten. Von ihrem rechten Arm führte ein Infusionsschlauch zu einer Lösungsflasche, ein Monitor über ihr zeigte die Vitalfunktionen an. Auf dem Tischchen neben ihrem Bett eine Zeitung, eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, eine Armbanduhr, sonst nichts. Keine Dinge, die man von Besuchern mitgebracht bekam.
    Bertram Fallers Frage fiel ihr ein – Besuch von wem?
    Keine Eltern, keine Geschwister, keine Freunde, keine Kollegen. Nur eine Kripofrau, die zu Rücksicht nicht mehr in der Lage war.
    Sie wünschte, sie wäre nicht gekommen.
    Aber sie wusste, dass sie nicht gehen konnte, ohne mit Esther gesprochen zu haben. Über GoSolar, über Berlin. So war es nun einmal, so war s
ie
nun einmal, seit ein paar Tagen oder Wochen oder Monaten.
    Sie verabscheute sich dafür.
    Diese Ermittlungen noch, dachte sie, dann endlich aufräumen, den Schutt beiseiteschaffen, der sich im Laufe von fünfundvierzig Jahren in ihr angehäuft hatte. Täglich Kaffee trinken mit Katrin Rein, der Lieblingspsychologin, oder gleich bei ihr einziehen. Dann eine Weile mit den
freundlichen Bäumen ums Kanzan-an herum sprechen, die sie besser als jeder Mensch zu nehmen wussten.
    »Esther?«, sagte sie leise.
    Die verschatteten Augen öffneten sich, sahen Louise an. Dann richtete Esther sich halb auf, schob sich das Kopfkissen in den Rücken. »Irgendwo ist ein Stuhl.«
    Louise holte ein unbequemes Metallmöbel aus einer Ecke und stellte es neben das Bett. »Wie geht es Ihnen?«
    Esther senkte den Blick, antwortete nicht.
    »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann … «
    »Danke.«
    »Möchten Sie, dass ich Ihre Eltern anrufe?«
    »Wozu?«
    »Damit sie Sie besuchen kommen.«
    »Sie leben in Australien.«
    »Eine Freundin?«
    Ein schwaches Kopfschütteln.
    »Haben Sie niemanden, der … «
    »Ich brauche niemanden.« Esther zog die Decke über die Brust, strich sie glatt. Ihre Augen wanderten zu dem Verband um ihr linkes Handgelenk. Nach einem Moment legte sie die rechte darauf. »Warum sind Sie hier?«
    » Wegen GoSolar«, sagte Louise.
    »Dann bringen wir es endlich hinter uns.«
     
    Esther begann mit Berlin und wiederholte zunächst, was sie Louise in Littenweiler bereits erzählt hatte: Ihr Hausarzt hatte sie an seinen Schwager überwiesen, einen Spezialisten für Angsterkrankungen und Depressionen an der Charité. Freiburg wäre nicht in Frage gekommen, außerdem hatte sie die Reise nach Berlin als Herausforderung betrachtet, als ersten Schritt aus der Krankheit – sie hatte Angst zu reisen,
Angst zu fliegen, Angst, allein in einer fremden Stadt zu sein. Vielleicht tut es Ihnen gut, hatte der Hausarzt gesagt.
    Also war sie nach Berlin geflogen.
    Was im Hotelflur geschehen war, hatte sie nur am Rande mitbekommen – sie hatte in der Charité zur Beruhigung Antidepressiva erhalten. Kurz nach dem Tumult vor ihrer Tür schlief sie wieder ein.
    Ein Anruf weckte sie, ein Kollege von GoSolar, der sagte, er sei zufällig auch in Berlin und würde gern mit ihr zu Abend essen. Sie sagte nein. Er versuchte, sie zu überreden, aber sie blieb beim Nein. Es ging ihr nicht gut, körperlich wie seelisch, sie hatte keine Lust.
    Da sagte der Kollege, dass er mit ihr reden
müsse
. Über das, was sie bei GoSolar tue. Sie verstand nicht, wollte das Gespräch beenden.
    Aber er wusste Bescheid.
    »Worüber, Esther?«, fragte Louise sanft.
    »Ich dachte, Sie wissen es.«
    »Nicht genau.«
    »Ich habe … Aber ich kann das nicht s
o
erzählen, ich muss von vorn anfangen … «
    »Okay, erzählen Sie erst von Berlin. Von Ihrem Kollegen. Wie heißt er?«
    »Philipp.«
    Louise erstarrte. »Philipp Schulz? Ihr Büronachbar?«
    »Kennen Sie ihn?«
    »Flüchtig.

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