Das verborgene Netz
Mayerhöfers Liste bei GoSolar eingeschleust worden war und nach dem Mord an Schulz Fluchtgefahr bestand, wäre eine sofort beginnende Voraufklärung sinnvoll – wo hielten sich die fünfzehn Verdächtigen auf? Wer fuhr überstürzt wohin? Wer traf sich mit wem?
Dazu kam, dass die vernehmenden Teams genaue Sachstandskenntnisse haben und von ihr eingewiesen werden mussten. Vorgehensweise und Ziele mussten festgelegt, ein Fragenkatalog erarbeitet werden, außerdem mussten die Kollegen wissen, wie sie sich verhalten sollten, wenn die zu befragende Person nicht anzutreffen war. Und sie brauchten eine Koordinierungs- und Kommunikationsstelle, Schreibund Telefonkräfte.
Vor allem jedoch brauchten sie dreißig Ermittler.
Der Soko gehörten bislang sechs Beamte aus dem D 11 und dem D 31 an. Rolf Bermann war beim Arzt, Ernesto
Freudenreich hatte sich im Keller eingeschlossen, Peter Schöne war mit den übrigen beiden Kollegen noch in Ebnet. Blieb an diesem Abend allein sie selbst.
»Und ich«, sagte Kilian. »Und Marc.«
»Hm.« Eine vollkommen erschöpfte Hauptkommissarin mit akustischen und seelischen Zuständen, zwei junge Draufgänger, die sich hatten einfangen lassen und die halbe Nacht im Wald verbracht hatten.
Frustriert warf sie einen Blick auf die zweihundert Seiten Informationen, die Ernesto Freudenreich aus polizeilichen Quellen und im Internet zu den fünfzehn Personen zusammengetragen hatte. Familienstand, private Websites, biographische Angaben, beruflicher Werdegang, Reisen, Hobbys, Fotos. Unter den Hunderten Details mochte sich der eine oder andere wertvolle Hinweis verbergen – doch wer sollte jetzt danach suchen? Und nach welchen Kriterien?
Kilian bot an nachzusehen, wie viele Fahnder noch im Haus waren. Vielleicht konnten sie ein paar der Verdächtigen beobachten lassen. Louise wollte eben sagen: Tu das, da war der Stuhl vor ihrem Schreibtisch schon leer. Im Flur entfernten sich Kilians Schritte. Ihr Bewusstsein hatte für fünf Sekunden pausiert.
Sie stützte das Kinn auf die Hände. Ihr Kopf war schwer, die Augen schmerzten, das Summen hallte zwischen ihren Ohren wider, ein unbarmherziges Echo, das zwischen Höhlenwänden hin- und hergeworfen wurde. In ihrem Hirn flogen Namen herum, die sie nur noch mit größter Mühe konkreten Personen und Zusammenhängen zuordnen konnte. Hans Peter Steinhoff, Journalist aus Hamburg, in Berlin verprügelt / Philipp Schulz, Nachfolger von Heinrich Willert bei GoSolar, tot im Wald / Willert, Kinderpornos, im August gefeuert, heruntergekommene Wohnung in
der Belfortstraße / Gerhard Kleinert, Mitgründer und Mitvorstand von GoSolar, Liebhaber scheußlicher abstrakter Kunst / Annette Mayerhöfer, Bürogenossin von Esther Graf, ab Januar Windkraft in Hamburg / der Schutzengel, versuchte Tötung in Berlin, Wanzen und Kameras, Retter von Esther, hatte eventuell aus der Distanz über Kameralinsen und Schallwellen Gefühle entwickelt, Entführung von Marc, vielleicht identisch mit dem ermordeten Philipp Schulz.
Esther selbst, zu der sie noch jedes Detail wusste.
Dazu fünfzehn weitere Namen …
Gähnend sah sie auf die Uhr. Kurz nach sieben. Der bärtige Arzt – dessen Name ihr entfallen war – hatte noch eine Stunde Dienst. Aber sie musste nicht um acht im Krankenhaus sein, zehn reichte auch. Und elf hieße: dreieinhalb Stunden Schlaf.
Dann mit Esther sprechen, auf den Schutzengel warten – falls er noch lebte.
Die Tür öffnete sich, Kilian trat ein. Zwei Meter vor ihrem Schreibtisch blieb er stehen. »Sechs Kollegen. Macht mit uns acht.«
»Sechs plus drei ist acht? Na gut.«
»Marc ist heim. Ihm ging’s nicht so gut.«
Louise schürzte die Lippen. Niemandem ging es gut in diesen seltsamen Tagen. Nicht einmal Rolf Bermann, dem es sonst immer gutging.
»Wir könnten Ernesto fragen, ob ihm bei jemandem was aufgefallen ist«, sagte Kilian.
Louise gähnte erneut. »Ich kann dir nicht folgen.«
»Bei jemandem auf Mayerhöfers Liste.«
»Warum stehst du da rum wie bestellt und nicht abgeholt? Kannst du dich bitte setzen?«
Er grinste. »Ich rieche nach Bier.«
»Wieso?«
»Weil ich drüben eins getrunken hab.«
Sie seufzte. »Setz dich, Kilian.«
Während er Platz nahm, schrieb Louise an Ernesto. Kaum eine Minute später kam die Antwort.
Fünf Namen, bei denen ihm biographische Lücken aufgefallen waren. Wege endeten in Sackgassen, Daten ließen sich nicht überprüfen, keine Fotos, seltsame Zufälle. Aber er übernehme keine Garantie, drei
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