Das verborgene Netz
gekommen und zweimal gegangen war.
Louise bat Marić, sie zu beschreiben.
Klein, dick, alt – der unförmige Schemen von vorhin. Sie glaubte nicht, dass der Schutzengel Zeit gefunden hatte, sich in eine kleine, dicke Nonne zu verwandeln.
Sie faltete den Gebäudeplan auf, den Kilian von Bertram Faller erhalten hatte. »Wo sind wir?«
Marić zeigte es ihr.
»Hast du einen Stift?«
Sie markierte die Stelle. Dem Plan zufolge hatte die Station zwei Eingänge. Beide wurden bewacht. Dass der Schutzengel durch eines der Fenster eingestiegen war, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie waren geschlossen, und die Station lag im zweiten Stock. Es musste einen dritten Zugang geben.
Sie bat Marić, sich den Grundriss genau anzusehen.
»Definitiv nur zwei Schleusen«, sagte er nach einer Weile. Dann deutete er auf die Überschrift – »Neubau«. »Gibt’s auch einen alten Teil?«
»Verflucht, du hast recht.« Das Krankenhaus hatte vor einigen Jahren einen Neubau bekommen, in dem unter anderem die Intensivstation lag. Sie hatte einen Zeitungsartikel gelesen, plötzlich auch ein Bild vor Augen, weißbekittelte Menschen mit Sektgläsern in den Händen, mitten unter ihnen ein Bischof in Schwarz.
Ein Neubau, der an den alten Teil angebaut worden war. Irgendwo musste es Übergänge geben.
Sie informierte Marić und Heller, dass sich ein Verdächtiger, nach dem gefahndet werde, im Gebäude aufhalte – nehmt ihn nicht fest, aber seid wachsam und informiert mich.
»Ist er gefährlich?«, fragte Marić.
»Vermutlich nicht.«
»Vermutlich?«, wiederholte Heller spöttisch.
Sie zuckte die Achseln. »So ist das Leben.«
Im Dämmerlicht der Station studierte sie den Grundriss. Der alte Teil der Klinik schloss sich im Westen an den Neubau an und verlief nach Süden, der horizontale Steg eines
»L«, wenn sie Lage und Form des ganzen Gebäudes richtig in Erinnerung hatte. Die Übergänge jenseits der zweiten Schleuse kamen nicht in Frage, da saßen Marić und Heller. Im Grunde blieb nur eine einzige Möglichkeit: Der letzte Raum auf der Südseite vor diesem Ausgang der Station, laut Plan ein Schwesternzimmer.
Sie steckte die Kopie ein, rieb sich erschöpft die Schläfen. Das vielstimmige Piepen der Überprüfungsmonitore hatte das Summen in ihrem Kopf verstärkt. Akustische Verwandte, die Botschaften auszutauschen schienen.
Das Schwesternzimmer war leer, das Licht ausgeschaltet. Durch ein Fenster schien mattgelbes Mondlicht herein. In der Mitte der Westwand befand sich eine Tür. Sie zog sie auf, tastete an der Außenwand nach einem Lichtschalter.
Stufen aus Holz, sie befand sich im alten Teil des Krankenhauses. Zwei Eingänge bewacht, den dritten übersehen, die Fehler mehrten sich. Vier Polizisten, und doch war Esther ohne Schutz gewesen.
Weil die Tür von außen nur mit einem Schlüssel zu öffnen war, nahm sie einen benutzten Kaffeebecher aus der Spüle und stellte ihn zwischen Türblatt und Rahmen auf den Boden.
Unschlüssig sah sie sich um. Nichts deutete darauf hin, dass der Mann in der Nähe war.
Warten oder weitersuchen?
Sie setzte sich auf den Treppenabsatz. Wenn er mit ihr sprechen wollte, würde er sie finden. Erst recht, dachte sie, falls sie wieder einschlief.
Er kam eine Viertelstunde später.
Die Treppenhausbeleuchtung war alle zwei, drei Minuten ausgegangen, sie hatte sie immer wieder eingeschaltet.
Als sie beim letzten Mal auf den Holzboden zurücksank, stand er auf den Stufen über ihr. Wie am frühen Morgen vor Esthers Haus trug er eine Gesichtsmaske und hielt die Walther in der behandschuhten Rechten. Diesmal zeigte die Mündung nach unten.
Auch die Augen erkannte sie wieder.
»Ihre Waffe«, sagte er ruhig.
Louise erhob sich und reichte ihm die Pistole, den Knauf voran. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte, was sie erreichen wollte. Wieder einmal weder Ziel noch Strategie überlegt …
»Das Handy auch?«
»Kein Empfang hier. Schließen Sie die Tür.«
Mit der Fußspitze schob sie den Kaffeebecher in das Schwesternzimmer und zog die Tür zu. »Sie wissen, wer ich bin?«
Er nickte.
»Dann wär’s nur fair, wenn Sie mir auch sagen, wer
Sie
sind.« Louise versuchte sich zu erinnern, wie er sich in Berlin genannt hatte, aber es fiel ihr nicht ein. Schon einmal hatte sie sich in einer Situation wie dieser befunden, im Sommer 2003 . Der Mann, der damals in ihre Wohnung eingedrungen war, hatte den Namen ihres Nachbarn verwendet – Marcel. »Kommen Sie, irgendein Name, ist
Weitere Kostenlose Bücher