Das verborgene Wort
rückhaltlos, offen. Und schwärmerisch. Körperteil für Körperteil besang ich seine Erscheinung, besonders seine Nase.
Meist jedoch erzählte ich von mir, bis alles, was mich verwirrte und ängstigte, nur noch Wörter waren, Papier. Wie in den Gesprächen mit Frau Peps wurde mir schon, während ich die Wirklichkeit in Wörter verwandelte, leichter. Hatte ich die Angelegenheit erst einmal zu Papier gebracht, hielt ich sie schon für erledigt. Im Guten wie im Bösen. Genüßlich malte ich Friedrich aus, was ich Gisela zum Geburtstag schenken würde, drei mit rosa, blauer und hellgrüner Spitze umhäkelte Taschentücher, wie ich sie einpacken und kunstvolle Schleifen binden würde. Keine simplen Schlaufen, nein, büschelweise wuchsen seidige Schlingen aus meinen Fingern auf die Linien meines Schreibhefts. So gründlich und ausführlich schrieb ich, bis ich das Geschenk greifbar vor Augen hatte. Am Festtag stand ich mit leeren Händen da und mußte mit einem Sträußchen aus dem Garten gratulieren gehen.
Von der Mutter schrieb ich und der Großmutter, selten vom Bruder, immer wieder vom Vater.
Um hinterm Hühnerstall zu sitzen, war es zu verregnet, ich hatte es mir im Wohnzimmer bequem gemacht, las mit erhobener Stimme aus Schillers >Räubern<, als die Tür aufging. Der Vater. Viel zu früh. Zu spät, mich aus dem Staube zu machen. Der Vater sah grau und trocken aus, brüchig, versteinert. Nur weg hier. Ich rutschte vom Sofa, wollte mich an ihm vorbeidrücken, als er den Gürtel schon aus der Hose gezogen hatte und auf meine Hand mit dem Reclamheftchen pfeifen ließ. Häs de nix Besseres ze dun, als hie op dä fuule Huck ze lije [51] , schrie er. Das Heftchen fiel mir aus der Hand, heulend drückte ich die gezeichnete Rechte mit der Linken an die Wange, duckte mich untern Tisch. Sah die Hand des Vaters das Heft ergreifen, hörte, wie er es einmal, zweimal zerriß, sah die verschmierten, mit Gummi aus Autoreifen besohlten Schuhe, die Tür knallte hinter ihnen zu.
Tage später stolperte der Vater über eine der großmütterlichen Schnapsflaschen, die, mit Beeren und Korn gefüllt, zur Hälfte aus dem Boden ragten, und fiel kopfüber ins Glas vom Mistbeet. Ein paar große und viele kleine Splitter steckten ihm im Gesicht, über die Stirn lief eine tiefe Schramme, aus der in dicken, trägen
Tropfen dunkles Blut quoll. Loof! schickte man mich zu Mickel. Mach flöck! Ich ließ mir Zeit. Wenn meine Füße schneller werden wollten, sah ich meine Hand an. Die aufgeplatzte Haut war noch nicht verheilt.
Friedrich verzieh mir. Er wußte von Tyrannen manches Lied zu singen. >Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei / Und würd' er in Ketten geboren.< Mein Heft für schöne Sätze und Wörter füllte sich mit Schiller. Nirgends fand ich mich so tief verstanden wie bei ihm. Der Geist ist frei! In meinem Kopf kann mir niemand dreinreden. Ich trug abgelegte Kleider, zu große oder zu kleine Schuhe, hatte keine Armbanduhr und fuhr in den Ferien nicht weg. Aber in meinem Kopf reiste ich, wohin mir niemand folgen konnte, trug ich Bleyle-Kleider von C & A und Pepitahosen aus Amerika, Lackschuhe von Salamander und Gewänder wie Carmen oder Amalie auf der Bühne der Stadthalle Großenfeld. Ich mußte am Abend um acht zu Hause sein, mußte mit zu den Verwandten nach Rüpprich, ich durfte nicht ans Baggerloch, ich kriegte keinen Badeanzug. In meinem Kopf hatte ich alles. Denken war Weg-denken, Schön-denken, Anders-denken. Denken war Flucht in den Kopf, in die Freiheit. Freiheit war im Kopf. Und nur dort. Alles, was ich mir vorstellte, war so viel herrlicher als das, was ich in Wirklichkeit kannte. Und es gehörte mir, mir allein. Keiner konnte es mir wegnehmen. Keiner konnte mir befehlen, dreinreden, dumm kommen. Das Reich der Freiheit. Daß dies auch ein Reich der Einsamkeit war, störte mich nicht. Im Gegenteil. Scheinbar allein, war ich sie alle. Das verliebte Mädchen so gut wie der junge Mann, den sie liebte, der sie liebte; die gütige Mutter, der gerechte Vater, war Gebirge und Meer, Wälder und Seen. In meinem Kopf war alles schön. Lange glaubte ich, ein wahrer Künstler sei einer, der es vermöchte, Häßliches so darzustellen, daß es schön würde, ein Plumpsklo zum Beispiel oder einen Kuhfladen. Ich versuchte es einige Male, doch je genauer ich hinsah und vor allem hinroch, desto widerwärtiger wurden mir beide. Ich war eben kein Künstler.
Als ich Friedrich schrieb, daß Hanni und Rudi bald heiraten würden, sagte er
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