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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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für mich hingestellt.
    Ich mußte langsam lesen, die Geschichte war kurz, das Licht schlecht. Der Bruder ließ auf sich warten. Er hatte sein Geduldsspiel mitgenommen; ein Ding, nicht größer als eine Taschenuhr; in den rotlackierten Holzboden unter einer gewölbten Plastikhaube waren blaue Hin- und Herwege eingekerbt, die in eine kleine Grube mündeten. Die Silberkugel war durch Neigen und Rucken zunächst auf einen der Wege zu bringen, dann in die Grube. Wollte man von neuem beginnen, mußte man die Kugel wieder hinausschütteln. Der Bruder wurde für sein Geduldsspiel immer und überall gelobt und beherrschte es bald so geschickt, daß es an ein Wunder grenzte, wie er das Kügelchen auf schnellstem Wege in die Grube schlüpfen ließ. Über diesem Spiel versank für ihn die Welt wie für mich über den Büchern.
    Zum dritten Mal schon stand ich mit dem mörderischen Sonnenwirt am Rande des Abgrunds, als der Bruder kam, das Geschirr beiseite räumte und ich mich endlich in Pücklers Festsaal hinaustasten konnte.
    Die Musik spielte. Das sah ich an den Bewegungen der Kapelle, der Tänzer. Ich hörte nichts. Unter den modischen Ondulationen und Fassonschnitten über verschwitzten Kragen und verrutschten Krawatten, aufgeknöpften Blusen und rotglühenden Ausschnitten fehlten die vertrauten Nasen, Münder, Augen, Ohren. Totenköpfe. Knöcherne Mundhöhlen, vom Auf und Ab der Kiefer lebhaft bewegt. Stumm. Der Bruder griff nach meiner Hand, wollte mich mit sich ziehen. Ich stand erstarrt.
    Bertram! keuchte ich.
    Er sah sich um.
    Bertram! Er hatte ein Gesicht. Hatte sein liebes, gutmütiges Jungengesicht mit den treuherzigen Augen, braun wie die meinen. Nur wir beide in der Familie, der grau, grün und blau gemischten Verwandtschaft, hatten diese dunklen Augen. Bertram, ich fiel ihm um den Hals. Berti, ich muß hier raus. Das Kleid der Mutter, ihre Beine, ihre Schuhe, ihre frisch gelegten Wellen im rötlichen Haar rannten auf mich zu, ihre Hand war es, die mich packte, Knochenhand, und als der Schädel seine Mundöffnung meinem Ohr näherte, riß ich mich los, heulte auf vor Entsetzen, stürzte ins Freie. Friedrich, erzählte mir der Bruder anderntags, habe ich geschrien, der ganze Saal sei zusammengelaufen, und die
    Mutter habe dagestanden wie bei der Beerdigung vom Opa, und alle hätten sie bedauert wegen ihrem dolle Döppe. Dat kütt do- von, wenn mer de Blage op de Scholl Scheck, hätten sie einstimmig gesagt.
    Zu Hause machte mir der Vater, der Feste gern unter einem Vorwand früher verließ, die Tür auf. Er hatte ein Gesicht. Ich hätte es fast geküßt. Auch die Mutter hatte am nächsten Tag wieder ein Gesicht. Alle hatten eines und behielten es.
    Das letzte Stück vom Hochzeitskuchen war noch nicht gegessen, da brach ich zu einem meiner ausgedehnten Spaziergänge auf. Mit einem flüchtigen Streicheln über die blaue Seide verabschiedete ich mich von Friedrich, als ich eine leichte, kühle Berührung auf meiner rechten Schulter fühlte. Ich zuckte zusammen, sah mich um. Niemand. Gemurmel bedeutete mir, ich solle den Weg zum Rhein einschlagen. Das hatte ich ohnehin vor.
    Bei der Großvaterweide suchte ich einen Wutstein. Kaum sah ich ihn an, sah mich ein Totenkopf an. Entsetzt ließ ich ihn fallen. Jemand war hier, spürte ich, vornehm duftend, ähnlich wie der Bürgermeister mit der Ermessenssache. Nicht Angst hielt mich ab, den Kopf zu wenden. Er könne mir mißfallen, fürchtete ich. Das tat er nicht. Er war festlich und altmodisch gekleidet, wie ein französischer Baron in >Fels und Meer, die Illustrierte Zeitschrift für das Deutsche Haus< vom Dachboden der Frau Bürgermeister. Er trug einen Frack, ein fein plissiertes Hemd, Handschuhe und Zylinder. Hatte weder ein Gesicht noch kein Gesicht, schien eine Nase, einen Mund, Wangen und Stirn, sogar Augen zu haben, doch alles nur vergleichsweise, eine Nase wie eine Nase, ein Mund wie ein Mund, das Wort >Maske< schon zu genau für diese gesichtsartige Masse. Die Pappeln rauschten nicht, die Schiffe tuckerten nicht, die Krähen schrien nicht mehr. Die Welt war verstummt. Er hielt sich seitlich dicht hinter mir, begleitete mich ein Stück den Rhein entlang, von weitem sah ich ein engumschlungenes Paar durch die Kiesel stolpern und in den Wiesen verschwinden, erkannte Sigrid und Heinzi aus meiner alten Volksschulklasse. Als wir uns der Rhenania näherten, spürte ich einen Windstoß im Rücken, einen Wirbel, er stand vor mir. Dünn und von unbestimmter Länge, eine

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