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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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unstet züngelnde, kalte Flamme im Frack. Von den glasähnlichen Knöpfen ging ein schwaches, trübes Flimmern aus. Schweigen bedeutend, hob er den schwarzledern behandschuhten Zeigefinger an die lippenartige Materie, trat wieder hinter mich und zog sich im Weitergehen langsam von mir zurück: die Geräusche des Dorfes kehrten allmählich wieder, die Sirene der Raffinerie gab das Feierabendsignal, die Straßenbahn nach Strauberg ging quietschend in die Kurve, ein Radfahrer klingelte und schrie, ich wäre ihm fast in die Räder gelaufen.
    Zu Hause raste ich die Treppen ins Schlafzimmer hinauf, brach vor dem Nachttisch in die Knie. Friedrich, stammelte ich, legte meine Stirn auf das Spitzendeckchen vor sein ewiges Halbprofil, silbern und blau, und heulte, bis mir die Tränen in den Kragen liefen.
    Hilla, eine Hand tupfte mir auf die Schulter. Es war der Bruder. Komm runter. Et jibt wat zu essen.
    In der Schule und in der Kirche hatte ich Ruhe vor ihm. Überall sonst konnte er jederzeit auftauchen. Anwesend war er immer, wie der Wind, wenn er nicht weht, oder die Sonne hinter den Wölken. Kam er näher, zogen sich die Geräusche der Erde von mir zurück, und ich roch den süßen, ein wenig fauligen Duft einer unscheinbaren, weißen Blüte, die er im Knopfloch trug, Gardenie heiße sie. Er sprach nur selten. Mit einer Stimme, die sich kaum von der Stille abhob, selbst Teil der Stille, Grauton in einer Grisaille. Fragen stellte er nie, erriet jedoch die meinen und ließ dann ein Ja oder Nein vernehmen, als trüge mir der Wind einen fernen Glockenton zu.
    Früher schon war ich gern mit der Mutter auf den Kirchhof gegangen, wo sie ein paar Grabstätten in Pflege hatte, liebte die flimmernde, summende Welt von Käfern und Schmetterlingen, Bienen und namenlosen Glanztierchen mit ihrem strengen Duft von Tagetes, Glockenheide, Wacholder und Buchsbaum, liebte das feine Konzert der Insekten, auf- und niederwogend, die Soli der Grillen, das Sirren einer blutrünstigen Bremse; liebte die Dunkelheiten der Sträucher, Jasmin und Holunder über den alten, hohen Grabmalen, und unter all dem zarten, bunten Ge-webe das Schweigen der Gräber, das jeden zu andächtiger Stille zwang.
    Nun war mir, als gehörte ich hierher und nirgendwohin sonst; nahm mich der Ruhestätten von Dormagens Annchen, Röttgers Paulchen, der Bäckerfamilie Stickelmann an, machte das Rechteck der Bürgermeisterfamilie Vischer zu einem Schmuckstück seiner Art, polierte die Namen zwischen Geburt und Tod mit einem abgelegten Leibchen auf Hochglanz, wühlte Löcher für neue Blumen in die Erde, riß die alten heraus und warf sie auf den Komposthaufen hinter der Leichenhalle, den Geruch der Verwesung in tiefen Zügen genießend. Hatte ich meine Hände lange genug in die feuchte Erde der Parzellen vergraben, hockte ich auf einer der steinernen Einfassungen und versenkte mich in den lebendigen Glanz aus Licht, Duft, Gesumm. Ihm nah.
    Meine Leistungen in der Schule blieben gut. Mitunter war ich geistesabwesend, doch das waren jetzt alle, jede mit erstem Verliebtsein beschäftigt. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte mir Doris von Robert, einem älteren Gymnasiasten, Unterprimaner, und nahm mich ins Gebet. Doch als sie mein Gesicht sah, schlug sie sich auf den Mund und fragte, ob mir etwas fehle.
    Ich schüttelte den Kopf. Schon mit meiner Liebe zu Schiller war ich bei der Freundin nur auf bemühtes Verständnis gestoßen. Verlegen stammelte ich etwas von verlorengegangenen James-Dean-Fotos. Alle Mädchen in der Klasse sammelten Bilder von Filmschauspielern; Rock Hudson, Tony Curtis, Horst Buchholz. Ich wollte dazugehören und tat so, als interessiere ich mich für James Dean. Investierte zornigen Herzens in Glanzpostkarten und Kaugummi, dem Bilder beigegeben waren, beteiligte mich am Hin- und Hertauschen der Konterfeis - Biete dreimal Karlheinz Böhm gegen einen James Stewart - und schwatzte den Cousinen Filmprogramme ab. Ob Doris mir diesen Kummer glaubte, weiß ich nicht. Jedenfalls fragte sie nie mehr nach meinem >Schwarm<, erzählte mir aber auch lange nicht wieder von ihrem Robert.
    Ich kannte ihn nun seit dem Sommer, stundenlang hatten wir auf den Kribben am Rhein gesessen, ins Wasser geschaut, uns der Sonne entgegengestreckt. Ihm war, so wie mir, immer kalt, es zoguns in Licht und Wärme, am liebsten in Hitze und gleißende Helligkeit. Dann kam der November, und mit dem November kamen Kälte und Dunkelheit. Es war kurz nach Allerseelen, ich hatte am Tage

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