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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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nirgends sonst auf Erden finden kann.
    Bisweilen hielt er mich auf so besondere Art in Stille gefangen, daß ich kaum wieder aufzutauchen vermochte. Kam ich zu mir, klopfte mir jemand die Wangen oder hielt mir Kölnisch Wasser unter die Nase und rief meinen Namen. An einem kalten Januartag trennte ich einmal kurz vor der Endhaltestelle einer ansehnlichen Trauergemeinde, auf dem Weg vom Kirchhof zum Cafe Haase, die Köpfe ab und war darauf so sehr in seine Welt entrückt, daß ich gerade noch unser Gartentor erreichte. Wie ein großer, brauner Käfer habe ich dort gelegen, erzählte der Bruder, der mich kurz darauf fand, ein Käfer im Winterschlaf, die Beine fest unter den Bauch gepreßt. Von weither hörte ich Stimmen, mürrisch besorgt die Mutter und die Großmutter lamentierend, dat kütt alles bloß vun de hühere Scholl. Der scharfe Brombeergeruch von 4711 brachte mich zu mir, die Großmutter steckte mir ein mit Klosterfrau Melissengeist getränktes Zuckerstückchen in den Mund. De Scholl es zevill för dat Kenk, wiederholte sie ein ums andere Mal. Nä, nä, sagte die Mutter, et es bal su wick [52] . Ah, jo, die Großmutter schlug sich mit der Hand vor die Stirn, und die beiden Frauen nickten sich bedeutungsvoll zu.
    Kurze Zeit später schwamm, als ich morgens den Nachttopf benutzte, Blut im Urin wie ein Hahnentritt im Eidotter. Ich wußte Bescheid. Doris bekam ihre Tage seit zwei Monaten und Ursula Peters schon seit einem halben Jahr. Sie war die erste, die mit einem Entschuldigungsschreiben im Turnunterricht auf der Bank bleiben durfte. Nach und nach saßen immer mehr von uns abwechselnd oder gemeinsam auf der Bank im stolzen Gefühl des Erwähltseins.
    Die Mutter gab mir ein Strickstück, schmaler als ein Topflappen und doppelt so lang, das ich mir zwischen die Beine preßte und an zwei Knöpfen, der eine vorn, der andere hinten in der Taille, an einem daumenbreiten Gummiband befestigte. Sie behandelte mich wie eine Kranke, die Großmutter wie eine Besiegte.
    In der Küche hatte die Mutter schon ein Lager auf der Bankhergerichtet und hielt im Backofen warme Tücher bereit. Der Holzkasten war mit alten Matratzen in einem Bettlaken gepolstert. Ich nahm von dem einladenden Aufbau kaum Notiz, fragte, ob jemand krank sei, und wusch mich im eisigen Wasser am Spülstein, ohne mich um die Mutter zu kümmern. Wegen dieser einzigen Wasserstelle im Haus hatte es lange Auseinandersetzungen gegeben. In dem Buch >Das Mädchen auf dem Weg zur Frau<, einem Namenstagsgeschenk von Doris, hatte ich gelesen, daß der Körper unter den Armen und zwischen den Beinen >Stoffe produziert, die nicht gut riechen<. An eine morgendliche Wäsche unterhalb der Gürtellinie war nicht zu denken, aber das Recht auf täglich gewaschene Achselhöhlen ertrotzte ich mir schließlich doch.
    Jeden Samstag gab es im alten Schweinestall eine sargförmige Zinkwanne voll für alle, der Vater zuerst, die Kinder zuletzt. Kam ich an die Reihe, war das Wasser schon von einem schlierigen Film bedeckt, auf dem dunkle Klümpchen aus Haut und Dreck schwammen. Anschließend wurden in dä Bütt die Blaumänner des Vaters eingeweicht.
    Niemand glaubte, daß ich meinen >Sauberkeitsfimmel< lange durchhalten würde. Spätestens im Winter, wenn am Fenster neben dem Spülstein die Eisblumen nicht von den Scheiben schmolzen, würde ich von dieser Vornehmtuerei und Verschwendung schon wieder von selbst ablassen.
    Auch dem Bruder mißfiel dies Waschen mehr als alle anderen >Manieren<, die ich bislang schon eingeführt hatte. Eine Zeitlang wich er mir aus, bis er sicher war, daß ich meine Waschungen nicht auf seine Haut ausdehnen wollte.
    Im Frühjahr hatte ich auch noch ein eigenes Handtuch durchgesetzt. Ich trug es nach jedem Gebrauch die Treppe hoch zum Trocknen über der Eisenstange meines Bettes. Vom ersten verdienten Geld kaufte ich mir ein Stück Palmolive-Seife.
    An diesem Morgen aber war es noch der Klumpen Kernseife, graubraun von den ölverschmierten Händen des Vaters, mit dem ich mir unter die Arme fuhr, während ich die Eisblumen am Fenster fixierte. Die Großmutter bot mir ein weiches Hühnerei an, versprach Rotwein mit Eigelb, zwei Eigelb und Puderzucker für meine Stärkung, wenn ich nur hierblieb, hier im
    Küchendunst eines Dienstagvormittags, in den Schwaden eines Mittagessens aus Kohl und Kartoffeln und einer scharf gebratenen Wurst gegen Viertel vor zwölf, bevor der Vater nach Hause kam, >Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns

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