Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
zuvor meine Gräber mit ewigen Lichtern versehen, es regnete, stürmte, die Blätter lagen gehäuft in den Straßen, als ich ihn hinter mir, neben mir, um mich herum spürte. Ich hatte sein Nahen nicht bemerkt, die Geräusche waren nicht wie gewöhnlich verebbt, hatten sich vielmehr verstärkt, ein gewaltiges Brausen und Prasseln von Wind und Regen drang auf mich ein, und seine Stimme klang hohl, vielstimmig, ein vielfach gebrochener Chorgesang im hohen Gewölbe, als er mir zum ersten Mal etwas befahl: Ich solle ihn ansehen. Er war, wie immer, im Frack, aber der Kopf mit dem Zylinder baumelte lose am Rückgrat, den Hals durchschnitt ein Teller, ein gewöhnlicher Suppenteller, Buchstabennudeln am Rand, fettig von Rinderbrühe. Tief in der Gurgel, sichelförmig. Mit einer Sichel hatten wir früher mit der Mutter von den Straßenrändern Grün für die Schafe geholt und für Hänschen. Regen und Wind heulte in die Ohren, drang auf meinen Körper ein, Angst und Schmerzen krümmten mich zusammen, ich keuchte davon, die dunkle, nasse Dorfstraße entlang, über Markt und Kirchplatz den Rheinwiesen entgegen. Frau Thienen fand mich bewußtlos an der Straße, unweit des Hauses von Dr. Mickel. Eine leichte Gehirnerschütterung. Ich blieb ein paar Tage zu Hause, fiebrig jedem Geräusch nachspürend, ob es auch die richtige Lautstärke habe. Begierig, aus dem Haus zu kommen, fuhr ich, sobald der Arzt es erlaubte, wieder zur Schule. Dort war ich sicher.
    Doch sobald ich die Straßenbahn bestiegen und mich wie immer neben Bärbel gesetzt hatte, drohte das Kreischen der Räder, der Spektakel der Kinder mein Trommelfell zu zerreißen. Eine Stimme, seine Stimme, befahl, einen Fensterplatz einzunehmen. Ich wechselte auf den Sitz hinter Bärbel, die mich verblüfft, dann erschrocken ansah. Kaum saß ich, wurde mir eine riesige Sense in die Hand gedrückt: Aus dem Fenster halten solle ich sie und alles, was sich darbot, zerschneiden. Mein Arm auf dem schmalen Holzvorsprung am Straßenbahnfenster lag wie angeschmiedet, ich umkrampfte den Schaft und heftete den Blick auf eine rosa Pudelmütze. Die Geräusche hatten jetzt wieder ihre normale
    Lautstärke. Hinsehen, warnte die Stimme, raussehen. Draußen schimmerte das Sensenblatt im milchigen Licht aus Straßenlaterne und Morgendämmerung.
    Tante Berta auf dem Fahrrad, die braune Tasche an der einen, das Netz mit Äpfeln an der anderen Seite der Lenkstange, kam schnell näher. Ich wollte die Sense heben, haushoch heben, da schwoll das Kreischen der Stimmen an, die Luft selbst dröhnte und drohte über mir einzustürzen, bis ich die Sense senkte und die Tante durchschnitt, kurz über dem Lenkrad, einfach durch. Ein kurzes Rucken des Stiels in meiner Hand. Es war vollbracht.
    Die Stimmen verstummten, lautlos rollten die Räder über die Schienen. Mit schwankenden Kannen am Lenker fuhr die Milchfrau der Bahn entgegen, der Sensenstiel bebte, die Frau reckte ihr Gesicht in den Regen, schien sich des Regens zu freuen, schaute mit offenen Augen nach oben, um noch mehr Nässe aufzufangen, ich kannte das runde, gutmütige Gesicht, seit ich als kleines Kind den Milchtopf vor die Tür gestellt hatte. Der Wind blies von vorn und bauschte ihren Rock, von den Reifen des Rades spritzte das Wasser in funkelnden Bögen, wieder wollte ich die Sense über das Opfer hinwegheben, überwältigendes Getöse bezwang meine Hand. Ich schnitt.
    Ein Mann überquerte die Straße, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, ging seinen Weg, als aus der Stille, die mich umfing, die Sense sich hob und, ein feines Zittern des Holzes in meiner Hand zeigte es an, ihm durch die Wirbelsäule fuhr. Nicht anders erging es einem kleinen Jungen. Er war gekleidet wie ein alter Segler. Sein Kleppermantel reichte bis auf die Gummistiefel, obwohl ihn ein Gürtel in der Taille hochhielt. Auf dem Kopf der Südwester verbarg sein Gesicht. Er platschte durch die Pfützen zum Gartentor hinaus, als die Mutter rief und ihm das Schulbrot brachte. Diesmal zögerte ich keine Sekunde, und Stille belohnte mich.
    Dieses Eingetauchtsein in Stille, dieses Ausgefülltsein mit Stille, dieses Stille-Sein mußte ich mir immer wieder von neuem verdienen. Er ließ nicht mehr ab, war nicht länger der zurückhaltende, feine Herr in Frack und Zylinder. Er tat sich keinen Zwang mehr an, zeigte sich in seiner wahren Gestalt, nämlich keiner. Und war doch da wie nie zuvor. Machte mich süchtignach seiner Belohnung, dieser gestillten Stille, wie man sie

Weitere Kostenlose Bücher